Im Kartenhaus des Lebens

Söldner würfelten um die Kriegsbeute, Hinrichtungen waren Jahrmarkt. Computerspiele nehmen sich harmloser aus: „game_over – Spiele, Tod und Jenseits“ im Kasseler Museum für Sepulkralkultur

Der Tod ist dem Spiel inhärent als Möglichkeitdes Versagens Das Spiel mit dem Tod im wirklichen Leben ist so alt wiedie Menschheit

von HEIDE PLATEN

„Von tödlichen Spielen muss eine Faszination ausgehen, die heute und in unserem Land glücklicherweise hauptsächlich nur in den virtuellen Welten der Computerspiele erlebt werden kann.“ (Katalogtext)

Das Leben ist ein Spiel. Dass, Memento mori, irgendwann gestorben sein muss, könnte sich nach einem Besuch der Ausstellung „game_over – Spiele, Tod und Jenseits“ im Kasseler Museum für Sepulkralkultur als Motor für den Spieltrieb des Homo ludens, des spielerischen Menschen, deuten lassen. Wer die 13. Karte zieht, gewinnt den Tod. Gestorben wird deshalb aber noch lange nicht. Im Tarot, einst vermutlich ein ganz gewöhnliches italienisches Kartenspiel mit verloren gegangenen Regeln, bedeutet der Sensenmann auch den späteren Kartenlegern und Wahrsagern besser nicht, dass ihre Kunden und Anhänger zukünftig spornstreichs in die Kiste springen müssen. Denn wer lässt sich schon gerne den eigenen Tod vorhersagen und zahlt auch noch dafür?

Über die Ursprünge des Spiels lässt sich nur spekulieren. Beschwörung, Kult, Religion, Orakel, Orientierungshilfe in einer feindlichen Umwelt nach dem Zufallsprinzip der gefallenen Knöchelchen und Steine, der Runenstäbe und Vogelzüge. Kriegsspiele, Wettbewerb und Sport erst zu Ehren der Götter, dann der Könige, Zeitvertreib der Adligen, schlussendlich Massenvergnügen. Der Tod ist dem Spiel inhärent als Möglichkeit der Niederlage, des Versagens. Spielen will gelernt sein, verlieren auch. Der verarmte Spieler richtet sich selbst, spielt mit der letzten Kugel Russisches Roulette, der Offizier erschießt sich der Ehre halber, nicht der Schulden wegen. Das ist nicht einmal 100 Jahre her. Die Lotterie war für die armen Leute da. Auch das ist Vergangenheit. Lotto bleibt zweimal wöchentlich ein kleiner Tod der Hoffnung auf ein anderes Leben, sie stirbt von der Hand der Lottofee und ersteht jedes Mal neu auf. Der Kitzel des Verlustes treibt den Spieler, der Extremsportler riskiert sein Leben.

Spiele, lässt sich im Museum lernen, waren nie ein Kinderkram; wertfreies, unschuldig naives kindliches Spiel ist eine Erfindung der Moderne, beginnend im 19. Jahrhundert, zuerst als Belehrung und Ertüchtigung für Kinder gedacht, denen erst allmählich der Status der – wenn auch kleiner – Menschen zugebilligt wurde. Erwachsene haben zu allen Zeiten gespielt, wenn sie, so Museumsleiter Reiner Sörries, „die Zeit und die materiellen Voraussetzungen dafür hatten“. Und sie haben immer auch um Leben und Tod gespielt, sei es in der Arena, am Kartentisch, am Schießautomaten. Schach dem König, Tod dem Falschspieler. Nichts ist so ernst wie das Spiel. Auch das der Kinder. Das wissen Psychologen und Erwachsene, die sich erinnern können. Das Kind hüpft von Pflasterstein zu Pflasterstein und ist nicht fröhlich. Es allein weiß, dass es nicht nur seine Geschicklichkeit übt, sondern großes Unheil von sich und den seinen abwendet: Tritt nicht auf einen Strich, sonst wird etwas Schreckliches geschehen. Meide die unterste und dann jede dritte Treppenstufe. Der harmlose Bauklotzturm gewinnt seine Faszination erst durch die Tränen, die vergossen werden, wenn er einstürzt. Gelacht wird im panischen Schrecken. „Mensch, ärgere dich nicht!“, bleibt ein frommer Rat.

Den christlichen Kirchen war das Spiel zwar immer wieder ein Gräuel, Karten die Gebetsbücher des Teufels, Spielhöllen ein Sündenpfuhl. Kirchliche Lotterien aber hatten ihre Nischen: jede Losnummer eine Buße und Gebet um Vergebung für verlorene Seelen, auch solche, „die sündhafte Spiele trieben“. Dabei strebten schon ägyptische Brettspieler 3.500 Jahre vor christlicher Zeitrechnung nach höheren Sphären, in Spiralen aufwärts. Im am spanischen Hof im 17. Jahrhundert beliebten Gänsespiel erwürfelten sich die Teilnehmer auf Feld 58 – auf dem Weg von der Wiege zum Grabe und kurz vor dem paradiesischen Ziel – den Tod, dem sie nur mit einem Glückswurf von der Schippe springen konnten: zur ewigen Glückseligkeit unter Umgehung des Sterbens. Ansonsten: „Zurück zum Start und erneut beginnen“. In Hölle oder Fegefeuer wird nur ausgesetzt.

In der Nähe des realen Todes wurde besonders gerne gespielt. Die Ausstellung dokumentiert Karten- und Würfelspiele, Saufgelage, aber auch derbe und skurrile Rollenspiele bei Totenwachen, Kriegs- und Soldatenspiele, Ritter schlagen die Bauern, Cowboys die Indianer. Kinder spielen Himmel, Hölle und Beerdigung. Und dunnemals wurde – lange vor dem Computerspiel und in Echtzeit – geknüppelt, gehauen und gestochen, was das Zeug hielt. Die virtuellen Gräber der Tamagotchis im Internet sprechen allerdings eine Sprache, die Grabsteine und Trauerredner immer schon beherrschten. Der Elektronikschrott ist nicht nur geliebt worden, sondern erreichte in den Nachrufen der kleinen Besitzer ein verdächtig biblisches Alter. Und auch die heutigen Puppenmütter und -väter sind dem Tod näher, als das romantisierende Erwachsene gerne wahrhaben wollen. Pragmatisch nehmen sie im Kondolenzbuch Abschied von Barbie, die da aufgebahrt im dunklen Raum im Pappsarg liegt: „Goodbye, Barbie. Wir werden dich nicht vermissen, zumindest nicht, da ich nicht mehr mit dir spiele.“

Im Kartenhaus des Lebens möchte die Freizeitgesellschaft Spielpark sein, eine Realität neben der Realität schaffen. Das Spiel mit dem Tod, das Abenteuer findet im Saale statt, hängt beim Bungee-Jumping am elastischen Seil, im Kinderzimmer am Joystick. Das Spiel mit dem Tod im wirklichen Leben ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Gladiatoren kämpften bei etruskischen Bestattungsfeiern, die Todgeweihten grüßten für Brot und Spiele in römischen Arenen, Söldner würfelten um die Kriegsbeute, Hinrichtungen waren Jahrmarkt, das Publikum ist noch immer der Richter, genießt Faszination und Grauen, Nervenkitzel ohne Konsequenz. Horrorvideos und Computerspiele nehmen sich harmloser aus. Skispringen und Rafting, Fußballstadien sind der kleine Krieg. Der große kommt pünktlich zur „Tagesschau“. Der Katalog zur Ausstellung zieht aus der Vergangenheit ein Fazit für die Zukunft: „Spiele, ob digital oder traditionell, sind nicht der Ort zum Trauern. Dass selbst der Tod in ihnen für Unterhaltung sorgt, ist … nicht zu beanstanden. Auch in diesem Punkt sind sie Gegenentwurf zu unserer alltäglichen Welt.“ Auferstehung im Laptop inbegriffen.

Bis zum 29. September, www.sepulkralmuseum.de , Katalog 28 €