Ein- und Ausschlüsse

Teil einer kleinen Trendwende im Cinéma Beur: Abdel Kechiches Debütfilm „Voltaire ist schuld“ stellt einen illegalisierten Einwanderer ins Zentrum

von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

„Es gibt keine illegalen Einwanderer. Es gibt nur Männer, Frauen, Menschen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, die zu diesem Zweck ein Grundrecht in Anspruch nehmen: das Recht auf Bewegungsfreiheit. Ich wollte die Reise eines solchen Mannes mitmachen und dabei nicht das womöglich Sensationelle, sondern seinen Alltag zeigen.“ Der so spricht, ist selbst Sohn maghrebinischer Einwanderer in Frankreich – und der Regisseur von Voltaire ist schuld.

Abdel Kechiches Film, vor zwei Jahren in Venedig ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen für das beste Erstlingswerk, ist Teil einer kleinen Trendwende im so genannten Cinéma Beur: Viele der in Frankreich geborenen Regisseure, deren Eltern oder Großeltern aus dem Maghreb kamen, stellen nicht mehr die Konflikte der schon länger im Lande Lebenden ins Zentrum ihrer Filme. Sie zeigen die Probleme und Selbstbehauptungsstrategien von Sans Papiers, die, weit entfernt vom Besitz der französischen Staatsbürgerschaft, nicht einmal elementare Rechte im Land von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einklagen können.

In Origine controlée (2000) stattete Regisseur Ahmed Bouchaala einen Franzosen mit den Papieren eines Illegalisierten aus – und schickte ihn durch dessen übliches Schicksal. Auch Charefs Marie-Line sah im selben Jahr sehr genau hin beim Verhältnis der Franzosen zu „ihren“ irregulär Eingewanderten und Arbeitenden. Andere, wie Chad Chenouga (Rue Bleue, Nr. 17) oder Bourlem Guerdjou (Leben im Paradies) zeigen die Situation der Generation ihrer Eltern in den 60er Jahren, seinerzeit ebenso unerwünscht, wie die Flüchtlinge von heute.

Das Cinéma Beur hat zugleich ein Stück seines Hangs zur Authentizität abgestreift, etwa die bisweilen ruppige Kameraführung oder die häufige Besetzung seiner Personnage mit Laiendarstellern. Voltaire ist schuld ist ein Schauspielerfilm. Von Kechiche hervorragend geführt und durch die Kamera unaufdringlich, aber sorgfältig beobachtet, treibt nicht nur Sami Bouajila die Hauptfigur Jallel zu beeindruckender Differenziertheit. Auch Aure Atika als Nassera, eine Frau, die ihm durch Heirat zu einem einigermaßen gesicherten Aufenthalt verhelfen könnte, und Elodie Bouchez als suizidgefährdetes Mädchen, das dennoch von einem ungebrochenem Willen zum Glück ist, geben eine großartige Vorstellung.

Der Tunesier Jallel steht, auch wenn er sich bei seiner Einreise als Algerier ausgibt, an Unschuld und Arglosigkeit Voltaires Candide in nichts nach. Der Schweigsame landet in einem lärmenden Männerwohnheim, wo, anders als hierzulande, nicht allein Flüchtlinge oder Asylsuchende, sondern allerlei Obdachlose untergebracht sind. Kechiche gibt dem Zusammenhalt der Marginalisierten großen Raum, ohne zu romantisieren: Hier gibt es auch rassistische Anfeindungen.

Die wirkliche Gefahr allerdings droht außerhalb des Wohnheims. Als Obst- und Gemüseverkäufer auf Pariser Metrobahnhöfen sieht sich Jallel ständiger Verfolgung durch die Polizei ausgesetzt. Als er, von Nassera vor dem Standesamt im Stich gelassen, schwer depressiv wird, leiht ihm ein französischer Freund seine Krankenkassenkarte. Im Schutz des nächsten Einschlussmilieus, eines Sanatoriums für psychisch Kranke, lernt Jallel die selbstmordgefährdete Lucie kennen, die Sex gegen Zigaretten anbietet. Abermals lässt Kechiche ein paar von der Gesellschaft auf unterschiedliche Weise Ausgesonderte zusammenfinden. In den Konflikten, die sich gleichwohl ergeben zwischen ihm und Lucie, wird sich Jallel aus seiner Passivität und Duldsamkeit befreien.

Wie „die Schicksale von irregulären Fremden und anderen Ausgeschlossenen sich ähneln, seien es nun Arme, Kranke oder Schwache“, habe er zeigen wollen, sagt Kechiche über Voltaire ist schuld. „Das ist der Ausschluss aus der Gesellschaft, von dem ich rede.“ Doch sein Film zeugt viel eher von einem Einschluss; von einer Integration, wenn man so will – die den angeblich Ausgeschlossenen allerdings lediglich für ihre Arbeitsleistung zugestanden wird. Denn ob Jallel Obst und Gemüse aus ein, zwei Kisten zu Schleuderpreisen verkauft, oder zusammen mit Lucie im Pariser Nachtleben billige Blumen an den Mann bringt: Die eingeborenen Franzosen nehmen es dankbar an. Der einzige wirkliche Ausschluss ist die Abschiebung. Und die droht vor allem den Sans Papiers.

morgen, 6., 7., 11., 12. + 16.7., jeweils 19 Uhr, 5. + 13.7., jeweils 21.15 Uhr, 14.7., 17 Uhr, Metropolis