Stoibers unheimlich gutes Alibi

Sie geht gern nach dem Einerseits-andererseits-System vor. Und wird ungern beschimpft

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Edmund Stoiber lächelt genüsslich. „Ich freue mich, Ihnen Frau Reiche als weiteres Mitglied meines Kompetenzteams vorstellen zu können“, erklärt der Kanzlerkandidat der Union den Berliner Journalisten. Und dann: „Sie wird für Frauenpolitik, Jugendpolitik und Familienpolitik zuständig sein.“

Einige Sekunden schweigen alle in der Pressekonferenz. Der zweite Satz ist der überraschende, der entscheidende. Stoiber, der für das traditionelle Familienbild schlechthin steht, präsentiert eine 28-jährige Mutter, eine unverheiratete Frau, die mit dem zweiten Kind schwanger ist, die dazu noch in der embryonalen Stammzellenforschung eine liberale Position vertritt, und macht sie ohne Einschränkungen zur Familienpolitikerin seines Wahlkampfteams. Ganz egal, was traditionsbeflissene Unionsleute sagen. Stoiber stellt sogar fest, dass Reiche eine „hervorragende“ Person sei, um „das Anliegen von Müttern und Vätern mit hoher persönlicher Glaubwürdigkeit zu repräsentieren.“ Und: „Wer meint, Frau Reiche persönlich zu kritisieren, der wende sich bitte an mich.“ Der Kandidat nimmt sein Protegé gegen die Familienfundamentalisten in Schutz – ein perfekt aufgeführtes Stück.

Katherina Reiche sitzt zwischen den beiden wichtigsten Personen der Union, dem Kanzlerkandidaten und der CDU-Chefin Angela Merkel, als hätte sie solche Auftritte schon ein dutzend Mal absolviert. Sie wirkt nicht aufgeregt, nicht übermäßig stolz, sondern lächelt entspannt. Das Hin- und Her um ihre Berufung, um ihr Privatleben? „Die Diskussion habe ich aus der Zeitung zur Kenntnis genommen“, sagt sie. Als habe sie immer nur an ihr Lebensmotto gedacht: Respice finem, bedenke das Ende.

Eine nur halb gelungene Nominierung wäre auch untypisch gewesen für Katherina Reiches Leben. Sie ist mit 19 Jahren der Jungen Union Teltow-Fläming beigetreten, weil sie etwas tun wollte gegen „den ewigen Stolpe“ und die ABM-Politik seiner Sozialministerin Hildebrandt, inzwischen ist sie Mitglied im Vorstand der CDU Deutschlands. Sie hat ihr Chemiestudium mit Auszeichnung abgeschlossen, in Potsdam, den USA und Finnland studiert. Sie ist attraktiv, Mutter einer dreijährigen Tochter, Geschäftsführerin des in der DDR verstaatlichten Kunstoffbetriebes ihrer Eltern, sie absolviert ein BWL-Fernstudium und sitzt seit vier Jahren als jüngste Abgeordnete der Union im Bundestag.

„Das war etwas unheimlich“, sagt sie heute über die Tage im Herbst 1998, als sie ihre Parlamentskarriere begann. „Ich fühlte mich wie im Durchlauferhitzer.“ Aber Angst habe ihr das nicht gemacht. Sie nahm es als Herausforderung. „Ich habe über vieles besonders intensiv nachgedacht und die Bundespolitik schnell faszinierend gefunden.“

Die Männer und Frauen aus der Unionsfraktion, von denen einige ihre Großeltern und noch mehr ihre Eltern sein könnten, sind ihr anfangs wohlwollend gegenübergetreten. Sie galt als nett und klug und wurde schnell „Miss Bundestag“ genannt. Vom Rüschenblusenimage der Claudia Nolte, ebenfalls aus dem Osten und jüngste Ministerin unter Helmut Kohl, ist sie Lichtjahre entfernt. Als sie vor drei Jahren ihren Säugling mit in den Bundestag brachte, sich über den sterilen Wickelraum beschwerte und über die Bundestagskita, die keinen Abgeordnetennachwuchs aufnahm, empfanden die Kollegen das als frischen Wind. Für Wirbel sorgte sie nicht. So eine machte die Union auch gern zur Beauftragten für Humangenetik und für die Beziehungen zu Polen.

Dass sie zunächst nicht angeeckt ist, liegt an ihrem Einerseits-andererseits-System. Beim Thema Familie zum Beispiel. Auf ihrer Internetseite erklärt sie, dass „neue Familienstrukturen unsere Gesellschaft bunter, reicher und lebendiger machen“. Doch sie schreibt auch, dass die Ehe trotz hoher Scheidungsraten zu den „wirksamsten, verbindenden Grundlagen der Lebensgemeinschaft Familie“ zähle. Übrig bleibt ein Mix: „Wir kommen weder mit einer realitätsblinden Ideologie, noch mit der verstaubten Gesellschaftsschwärmerei der 68er-Generation weiter.“

Ähnlich manövriert sie bei gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften: „Die Politik darf nicht in das persönliche Recht reinreden, verdammt noch mal“. Doch weil solche Partnerschaften „nicht auf Kinder angelegt sind, entsprechen sie nicht der Natur der Sache“. Auch ihre Haltung zum Studentenführer Rudi Dutschke, der wie sie aus Luckenwalde stammt, ist gespalten. Er ist für sie „der größte Sohn der Stadt“, weil er „schon immer für die Wiedervereinigung und gegen Gewalt war“. Als aber vor einigen Jahren eine Schule nach Dutschke benannt werden sollte, war sie dagegen. „Wegen der Folgen der Studentenproteste für unser Bildungssystem“, sagte sie. „Stellen Sie sich vor, Sie bewerben sich in Bayern mit einem Zeugnis aus Brandenburg und kommen obendrein noch von der Rudi-Dutschke-Schule. Da nimmt sie doch keiner.“

Im Frühjahr dieses Jahres hat Reiche das erste Mal in einer wichtigen Situation nicht mehr einen Einerseits-andererseits-Standpunkt eingenommen. Sie verfasste einen Antrag, der es erlaubt, embryonale Stammzellen zu Forschungszwecken kontrolliert zu importieren. Wolfgang Schäuble und Rita Süssmuth unterstützten die Position, aber andere aus der Union beschimpften sie als „Forschungsfetischistin“. „Das hat mich schon enttäuscht“, sagt Reiche. Schließlich habe sie bei dem Thema „jede Meinung beachtet“, ohne jedoch von ihrer Linie abzuweichen. Sie aber würde sich „nie anmaßen, verletzend zu sein und jemanden als doof abzutun“.

Vom Rüschenblusenimage des Kohl-Kükens Claudia Nolte ist sie Lichtjahre entfernt

Als Spitzenpolitikerin wird sie sich daran gewöhnen müssen, auch zu polarisieren – und im Gegenzug verletzt zu werden. Streiten, behauptet sie, sei nützlich, jedoch ohne persönliche Angriffe. Dieser Tage, an einem Wahlkampfstand in der Fußgängerzone in ihrem Brandenburger Wahlkreis, sagte sie: „Die Leute in den Neuen Ländern wollen eine Streitkultur. Dafür will ich werben.“

Katherina Reiche sieht sich als Vertreterin „einer jungen Generation mit eigenen Erfahrungen und Lebenskonzepten“. Dazu gehört das Recht auf eine eigene Lebensplanung. Das bezieht sie auch auf sich: „Heiraten ist eine ganz private Entscheidung von meinem Mann und mir. Unabhängig von politischen Entscheidungen.“

Und sie will glaubwürdig sein, gerade auch im Osten. Katherina Reiche ist Vizevorsitzende der Bundestagsarbeitsgruppe „Angelegenheiten der Neuen Länder“. Beim Straßenwahlkampf in ihrem Wahlkreis sagt sie: „16 Jahre CDU-Politik sind nicht zur vollen Zufriedenheit gelaufen. Das wissen wir auch. Die Quittung ist ein ehrgeiziges Programm, das auch nicht zu viel verspricht.“ Sicher wird es vielen Ostdeutschen gefallen, dass sie wenige Wochen nach der Geburt ihres zweiten Kindes im August „mit einem Höchstmaß an Logistik“ – Tagesmutter, ihre Eltern und die Eltern ihres Freundes – in die heiße Wahlkampfphase einsteigen will. Ihr erstes Kind hatte sie im Landtagswahlkampf in Brandenburg bekommen und stand nach kurzer Zeit „wieder auf der Matte“, wie sie es nennt. Einfach sei das nicht gewesen, räumt sie ein. „Es kostet Überwindung des inneren Schweinehundes und Kraft.“ Doch sie fühlt sich ihrer Familie und den Wählern verpflichtet. „Ich bin gewählt und habe ein Mandat.“

Eine Alibifrau will Reiche nicht sein. Den Vorwurf kontert sie gelassen. „Es ist schön, wenn sich der politische Gegner um mein Seelenleben sorgt“, sagt sie lächelnd. Nach Sekunden verschwindet das Grinsen. „Ich lasse mich nicht in Klischees reinpressen“, stellt sie klar. „Ohne die Lebensentwürfe junger Leute ist keine Politik machbar.“ So war es nur konsequent, dass sie gestern erstmals angekündigt hat, auch für ein Ministeramt zur Verfügung zu stehen.