Kaputte Tastaturen

Datenmüll, Dossiers und Diamantenschmuggel: Bruno Richard hat mit „Desaster“ einen deutschen Thriller für das 21. Jahrhundert geschrieben

von KOLJA MENSING

Im Dreck müssen andere wühlen. Laimer recherchiert nicht. Seine Auftraggeber aus der Wirtschaft versorgen ihn mit Informationen über Insidergeschäfte, Ehebrüche und halb legale Gefälligkeiten von unliebsamen Konkurrenten. Laimers Leistung besteht darin, das Material zu sichten und zu einem Dossier anzuordnen, damit es „dem standhält, was die Leute Wahrheit nennen“. Ein Spiel, mehr nicht.

Doch diesmal ist alles anders. In den Dateien, die Laimer übergeben worden sind, geht es um Diamantenschmuggel, um Schutzgelderpressungen und Auftragsmorde. Nichts für Laimer. Gerade hat er beschlossen, das Dossier zurückzugeben, da meldet sich ein gewisser Orlow und verlangt in gebrochenem Englisch die Herausgabe der Diskette. Die Drohung ist deutlich: „You have a boy ten years old.“ Damit fängt das Spiel erst an.

Als Protagonist eines Romans steht Rudolf Laimer in der Tradition der unzähligen Journalisten, Anwälte und Privatdetektive des amerikanischen Thrillers: Figuren, deren professionelles Selbstbewusstsein sich darauf gründet, ein bisschen mehr zu wissen als andere Menschen. Thrilling wird es, wenn sich wie im Fall Laimers ihr Wissensvorsprung gegen sie wendet. Der Schriftsteller Bruno Richard versucht also mit seinem Debüt „Desaster“ das, woran schon einige vor ihm gescheitert sind: in Deutschland und auch noch in Berlin einen Spannungsroman zu erzählen.

Gut, dass er sich gegen eine direkte Übertragung des amerikanischen Personals auf die deutsche Wirklichkeit entschieden hat. Laimer, für dessen Arbeit erst noch eine Berufsbezeichnung gefunden werden muss, gerät nie in Gefahr, als Lokalzeitungsjournalist, Kreuzberger Anwalt oder Frankfurter Privatdetektiv zur Karikatur zu werden. Dafür hat Richard sich streng an das dokumentarische Prinzip von Erfolgsautoren wie Tom Clancy oder John Grisham gehalten. „Desaster“ ist ein äußerst genau recherchierter Roman. Man merkt: Bruno Richard muss selbst einige Dossiers angelegt haben.

Der Hintergrund des Romans ist die Auflösung des internationalen Diamantenkartells Ende der Neunzigerjahre, als unter anderem aus Russland immer mehr Edelsteine auf den Markt drängten. Die russische Mafia entsendet einen Killer nach Berlin, der den Weg zu immer größeren Geschäften frei machen soll. Neben Laimer und seiner Familie werden unter anderem ein Diamantenhändler und seine Tochter, ein junger Hacker, ein Hausbesetzer und der Anhänger einer apokalyptischen Sekte Teil eines nur schwer zu durchschauenden Bandenkriegs.

Bruno Richard – ein Pseudonym übrigens, hinter dem sich der Literaturkritiker und Essayist Bruno Preisendörfer verbirgt – erliegt nicht der Versuchung, „Desaster“ mit touristischen Snapshots zu einem „Berlin-Roman“ zu machen. Stattdessen beschreibt er den Potsdamer Platz, Schöneberger Altbauwohnungen und anonyme Apartmentanlagen am Rand der Stadt so detailgetreu, dass das Bild, das man zunächst im Kopf hat, in zahlreiche Pixel zerfällt und sich dann neu zu einem unheimlichen Panorama zusammensetzt. In den glänzenden Steinfliesen des Debis-Hochhauses, den getönten Scheiben der Straßenbahnen und den Linsen der Videokameras, die die teureren Wohnanlagen sichern, spiegelt sich die Angst vor der Leere, die Berlin und andere große Städte hinter immer neuen Oberflächen zu verbergen versuchen.

Gerade weil Bruno Richard derart souverän mit seiner Stadt umgeht, stutzt man an einer Stelle. Der Verweis auf die historische Rede Ronald Reagans von 1987 spielt nicht nur mit einem der vielen Berlin-Klischees, denen der Autor sonst so elegant entkommt, sondern scheint einen Fehler zu enthalten. „Mr. Gorbatschow, take down this wall“ – hatte der amerikanische Präsident nicht „tear down this wall“ gesagt? Vermutlich. Die Suchmaschine Google findet 1.440 Belege, während der im Roman zitierte Satz nur zehnmal gezählt wird. Auch die Geschichte ist im Informationszeitalter zu einer statistischen Größe geworden. Diese Ungenauigkeit markiert nun sicher nicht den Punkt, von dem aus man diesen Roman aus den Angeln heben könnte. Es ist umgekehrt. Erst die kleine Abweichung verweist auf das eigentliche Thema von „Desaster“: die wachsende Unsicherheit gegenüber einer Welt, in der es angesichts der Informationsfluten keine Gewissheiten mehr gibt, sondern nur noch die Auskünfte von Suchmaschinen – beziehungsweise Menschen wie Laimer, der mit seinen Dossiers im 21. Jahrhundert ein gefragter Dienstleistungsunternehmer ist.

Es ist kein Zufall, dass „Desaster“ entlang der Jahrtausendwende erzählt wird, von den Feierlichkeiten im Hotel Adlon über die Diskussionen zum Y2K-Problem bis hin zu den düsteren Predigten eines Obdachlosen. „Behangen mit den Innereien ausgeschlachteter Dinge, mit klappernden Chipkarten, aufgefädelten Rädchen, mit einer Halskette aus Buchstaben, die aus einer alten Tastatur gebrochen worden waren, sein hagerer Körper mit dunklen, fleckigen Stofffetzen behängt und von Kabeln umschnürt“, schlurft er gleich auf der ersten Seite durch die Zukunftslandschaft des Potsdamer Platzes.

Das Bild des selbst ernannten Propheten, der den Müll der digitalen Revolution wie Schmuck an seinem Körper trägt, erzählt bereits vom Ausgang von „Desaster“. Nicht die Ordnung, sondern das Chaos entscheidet den Kampf der Informationen. Auch das ist genretypisch. Im Gegensatz zur detective novel endet der Thriller selten mit der kompletten Aufklärung eines Falles. Am Schluss steht – und so ist auch die Titelfrage perfekt gelöst – zumeist die Katastrophe.

Bruno Richard: „Desaster“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 379 S., 19,90 €