Über vierzig

Sonic Youth stellten auf einer Kurztournee ihre neue Platte „Murray St.“ vor. Und siehe, die New Yorker Noise-Rock-Heroen sind erwachsen geworden

von ANDREAS HARTMANN

Rockstars über vierzig sehen meist schlimmer aus als normale Familienväter, deren Kinder gerade das Abi gemacht haben. Rockstars über vierzig bilden sich ein, sie müssten immer noch ein wenig exzentrisch daherkommen, flechten sich das graue Resthaar zum Pferdeschwanz, tragen Klamotten wie Viva-Moderatoren oder heißen Ozzy Osbourne.

Bei Sonic Youth verhält sich das völlig anders: Gerade weil die Gruppe schon vor 20 Jahren so aussah wie the band from next door, wirkt es so extraordinär, dass sie es immer noch tut. Der Einzige, der bei Sonic Youth den Ansatz eines Bäuchleins hat und sich die Extravaganz einer schlecht gebundenen Krawatte auf der Bühne leistet, ist Neuzugang Jim O’Rourke, und der ist mit seinen 34 Jahren mit Abstand der Jüngste in der Band.

Als Sonic Youth nach einer langen Pause diese Woche für eine Kurztour nach Deutschland kamen, führten sie unter anderem vor, wie man auch altern kann: Nicht nur entweder würdevoll oder würdelos, sondern einfach nur so. Kim Gordon wird bald fünfzig, sieht aber immer noch so aus wie auf den Bandfotos vor 15 Jahren. Und Thurston Moore wirkt mit seiner Topffrisur auch heute noch, als würde er sich von seiner Mutti morgens die Klamotten über den Stuhl hängen lassen. Sieht aus wie ein Bübchen, würgt aber die Gitarre wie kein anderer. Auf die Frage, wie man sich eine derart juvenile Indie-Larmoyanz konservieren konnte, fällt einem nur ein faustischer Pakt ein.

Bei Sonic Youth ist alles wie immer, nur weniger aufregend als früher. Deswegen ist es ein wenig überraschend, welche beinahe schon sakrale Ehrfurcht dieser Band inzwischen entgegengebracht wird, wie euphorisch ihre vergleichsweise unprätentiöse neue Platte „Murray St.“ allenthalben aufgenommen wird. Denn in der letzten Zeit waren Sonic Youth eher egal, und Oasis oder Radiohead oder lieber gleich abstrakte Electronica aus Sheffield interessierten mehr als eine weitere Feedbackoper der New Yorker Indie-Institution mit Major-Deal. Vielleicht wollte die Band zu sehr ihren Noise-Rock immer noch weiter perfektionieren, obwohl sich das gar niemand mehr wünschte. Irgendwie schienen sich Sonic Youth verzettelt zu haben: Einerseits verloren sich alle Mitglieder in begeistert angegangenen Nebenprojekten, gingen in New Yorker Avantgardezirkeln zwischen Kunstgalerie und Knitting Factory genauso auf wie im Fördern eines irren Gitarrenderwisch-Japaners auf dem selbst betriebenen Minilabel. Ihre gemeinsamen Platten wirkten dagegen seltsam desillusioniert.

Ironischerweise hat nun anscheinend die simple Erkenntnis, dass von ihnen niemand mehr einen musikalischen Entwurf für eine bessere Welt erwartet, zur überzeugendsten Platte seit Jahren geführt. Der Druck scheint verschwunden, plötzlich wirken sie wieder souverän. „Murray St.“ klingt so was von locker, weist richtig kompakte Songs auf, ohne auf Noise und Kettensäge zu verzichten. Auch Thurston Moore findet: „Dies ist unsere erste erwachsene Platte.“

Nach 21 Jahren, den Weg von Glenn Brancas Gitarrensymphonie-Schule zu von sich selbst überraschten MTV-Ikonen gegangen, ohne die eigene Geschichte zu verleugnen, sind Sonic Youth nun endgültig die Stones des Indie-Rock – einfach über jeden Zweifel erhaben, jenseits von Kritik, einfach nur noch Legende, Kult und Mythos. Es lässt sich wohl kaum eine andere Band finden, die so wenig polarisiert: Sonic Youth gut zu finden ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, heißt es doch für viele immer noch, auf der richtigen Seite zu stehen. Schließlich steht die Band für eine Art dialektische Synthese aus Punk und Avantgarde, grob vereinfacht gesagt: aus Bauch und Kopf. Da ist einfach für jeden was dabei.

Auf ihrer eben abgeschlossenen Tournee verwalteten Sonic Youth in ähnlicher Weise das eigene Erbe wie auf „Murray St.“. Beim Konzert in Berlin fassten sie nochmals zusammen, wofür diese Band all die Jahre stand, und versuchten gar nicht erst – wie zuletzt bei der „Goodbye 20th Century“-Tour – Anschlüsse an die Neue Musik zu finden oder das eigene Werk nochmals völlig umzukrempeln. Mal sang Lee Ranaldo, dann Kim Gordon, dann Thurston Moore. Es erklang ein kakophonisches Stück, einer der extrem kompakten neuen Songs, die Gitarren wurden geschüttelt und auf dem Griffbrett herumgeschrubbt, als hätte das der Psychiater zur Triebabfuhr empfohlen, die Pegler am Verstärker verdreht, noch brutaler verdreht, dann noch mehr, der ganze New-York-Avantgarde-Habitus ausgespielt und sich trotzdem auf dem Boden herumgewälzt. Gut auch, dass man sich mit dem Alter keine Arroganz mehr leisten muss: Ganze vier Male kehrten Sonic Youth für Zugaben auf die Bühne zurück.