Klaglos bis zuletzt

Die Region Nord-Pas-de-Calais steckt in der postindustriellen Krise. Nur in einem ist Frankreichs Norden noch Spitze: Nirgends gibt es mehr alkoholbedingte Todesfälle als hier

aus Lille HEIKE HAARHOFF

Hier, sagt Olivier Lacoste, beklagt man sich nicht. Hier entschuldigt man sich. Für das Wetter, das meist schlecht ist. Für das flache Land, sagt der Direktor der Regionalen Gesundheitsbeobachtungsstation, „das das unsrige ist“, aber eben nicht das einer Club-Med-Klientel. Für die zuweilen schwere Küche. Für die hohe Arbeitslosigkeit seit der Schließung der Minen, der Metall-, der Siderurgie-, der Textil- und der Autoindustrie. Für alles, was Frankreichs Norden zwischen Dunkerque, Lille und Valenciennes nahe der belgischen Grenze einen schlechten Ruf eingebracht hat.

In der Region Nord-Pas-de-Calais tröstet man sich, dass es Unterschiede zu Lebzeiten geben mag, zumindest im Tod aber alle Menschen gleich sind. Oder fast gleich. Denn hier stirbt man eher. Eher jung und eher am Alkohol: Die Wahrscheinlichkeit, an tristen Trinkgewohnheiten zu sterben, ist hier drei- bis viermal so hoch wie in Restfrankreich, hat die Regionale Gesundheitsbeobachtungsstation herausgefunden. Vor allem das Arbeitermilieu ist betroffen, warnt das Institut national de la santé et de la recherche médicale. Der übermäßige Alkoholkonsum tötet zehnmal häufiger Arbeiter als leitende Angestellte. Und: Gemessen am nationalen Durchschnitt sterben hier zwanzig Prozent mehr Menschen an Zirrhosen sowie Atemwegs- und Krebserkrankungen des Verdauungstrakts.

Vielleicht würden solche Nachrichten in anderen französischen Regionen Wut, Demonstrationen, Streiks auslösen. Hier sind nicht mehr viele geblieben, gegen die sich auf die Straße gehen ließe: Die Fabriken sind längst verschwunden und mit ihnen alle, die ausreichend Grips hatten, zu erkennen, dass Zukunft und Beschäftigung anderswo liegen. „Hier“, sagt Olivier Lacoste, „vollzieht sich die Katastrophe ohne Revolte.“

Tut mir Leid, ich werd Ihnen nicht sagen, tja, blöd gelaufen, ich wohne halt im Norden, und deshalb bin ich benachteiligt und zwangsläufig Alkoholiker geworden. Ich habe das nie so empfunden. Es stimmt, hier wurde immer mehr gepichelt als anderswo. Wir aus dem Norden arbeiten ja auch mehr als die Kollegen aus dem Süden, und die Arbeit hier war immer auch körperlich sehr anstrengend, und das Klima ist auch ungesund. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass wir nach diesen ganzen Schließungsgeschichten noch mehr getrunken haben, denn, ich will mal so sagen, was machen Sie, wenn Ihre Frau Sie abends mit diesem Blick ansieht und Sie immer noch keinen Job gefunden haben? (Pierre, 50 Jahre, Exalkoholiker, Valenciennes)

In seinem Büro in der Regionalen Gesundheitsbeobachtungsstation in Lille breitet Olivier Lacoste farbige Karten der Region vor sich aus, Kreis für Kreis, Dorf für Dorf. Je dunkler die Farbe, desto alarmierender der Gesundheitszustand. Im stillgelegten Kohlerevier des Départements Le Nord mit 1,3 Millionen Einwohnern ist die Karte schwarz. Paradoxerweise belegen die Statistiken, dass hier pro Kopf und pro Jahr weniger Alkohol konsumiert wird als im französischen Durchschnitt. Trotzdem liegt der Absatz von Alkoholika weit höher als in den übrigen Regionen.

„Wir müssen also aufhören“, sagt Olivier Lacoste, „in Durchschnittswerten zu denken, und uns auf die Minderheit konzentrieren, deren Konsumverhalten abnormal ist. Wir müssen uns um die Schichten mit den größten sozialen Schwierigkeiten kümmern.“ Er holt eine Karte hervor, die mehrere Faktoren miteinander korreliert. „Wollen Sie die Wahrheit wissen? Je höher die Arbeitslosigkeit, desto häufiger der Tod durch Zirrhose. Vor fünfzig Jahren haben wir hier nicht mehr Zirrhosen festgestellt als im übrigen Frankreich.“

Es fing an, als mein Mann seine Arbeit verloren hatte. Er war plötzlich die ganze Zeit zu Hause, aber er war zu nichts nütze. Der Haushalt, die Kinder, alles überließ er mir, und er selbst brachte keinen Pfennig nach Hause. Zuerst habe ich ein bisschen getrunken, um mich zu beruhigen, dann immer mehr, alles heimlich, versteht sich. Am Ende trank ich, was ich finden konnte: Parfüm, Alkohol zum Desinfizieren, billigsten Fusel. Bis zum Tag, als ich den Unfall hatte, hat niemand etwas bemerkt. (Valérie, 39 Jahre, Alkoholikerin, Cambrai)

Sich um die Schichten mit den größten sozialen Schwierigkeiten kümmern. Josette Brassart hat genug davon. Seit Jahren sucht die Soziologin aus Valenciennes nach den Ursachen der Misere. „Frauen, die wie ich leben, sind die großen Ausnahmen in der Region“, erklärt sie, während sie ihren Wagen durch das Zentrum von Valenciennes steuert. Eine Frau aus der Region ist vor allem Mutter und Ehefrau, Bergarbeiterfrau, Metallarbeiterfrau, Automechanikerfrau, kurz: Frau ohne eigenen Beruf. Eine klar definierte, eine klar akzeptierte Rolle, die so lange gut funktionierte, bis das Gesellschaftssystem, in das diese Rolle sich wie perfekt einfügte – die Männer bei der Arbeit, die Gewerkschaften als Zweitfamilie und die Kirche am Sonntag –, zusammenbrach.

Sehen Sie!“ Josette Brassart zeigt mit dem Finger aus dem Fenster. „Die Fabrik Vallourec, zehntausend Beschäftigte, 1979 geschlossen, Ende, aus.“ Valenciennes hatte damals fünfzigtausend Einwohner. Das Auto passiert den Kanal von Mons. „Hier, die Backsteinhäuser, das waren die Häuser der Zechenbosse. Schön, was? Gibt keine Zechen mehr, alle geschlossen.“ Rechts und links der Straße erstrecken sich Industriebrachen. „Die Reste der Fabriken Talbot und Simca. Den Rest spar ich mir.“ Das Auto hält. „Heute sind die wichtigsten Arbeitgeber von Valenciennes die Krankenkasse und das Krankenhaus.“

Josette Brassart will hier den Onkologen David Foissey treffen. „Wir bereiten eine Studie vor“, sagt sie, „die herausfinden soll, wie sich die Krebspatienten der Region nach Alter, Einkommen, Geschlecht und Sozialversicherung aufteilen.“ David Foissey arbeitet seit einem Jahr im Krankenhaus von Valenciennes. Vor einem Jahr hatte er noch Hoffnung, wenn er aus der Fachliteratur erfuhr: „Es besteht ein linearer Zusammenhang zwischen der konsumierten Alkoholmenge und dem Risiko von Speiseröhrenkrebs, unabhängig von etwaigem zusätzlichem Tabakkonsum. Die Dauer des Konsums hingegen spielt eine unbedeutendere Rolle als die Tagesmenge, die zu einem bestimmten Zeitpunkt konsumiert wurde.“ David Foissey war überzeugt, die Situation würde sich nach und nach beherrschen lassen: Man müsste die Patienten einfach nur früher untersuchen, bevor ihr Krebs ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. Heute sagt er: „Hier wird nicht mehr operiert. Die Patienten warten zu lange, bevor sie zu mir kommen.“

Wenn du Alkoholiker bist, betrachtest du dich nicht als krank. Warum also solltest du zum Arzt gehen? Wir rennen nicht alle naslang und nur zum Spaß zum Arzt wie die Leute aus Südfrankreich. Wenn ich es mir recht überlege, nein, wir sprechen nicht über Krebs und Krankheit, wenn wir unsere Anonymen-Alkoholiker-Treffen haben. Das würde nur Streit bringen, und wir wollen keinen Streit. Wir sprechen ja auch nicht über Politik, Gewerkschaften oder Religion. (Jacques, 44 Jahre, Anonyme Alkoholiker, Valenciennes)

David Foissey ist noch ein junger Mediziner. Er hat Kollegen, die weggegangen sind aus der Region – um ihre Karriere im Süden Frankreichs fortzusetzen, wo das Klima mild ist, wo man weniger arbeitet, wo es keinen Mangel an Spezialisten gibt und wo die zu behandelnden Krankheiten einem Mediziner soziale Anerkennung verschaffen. David Foissey weiß nicht, wie lange er noch im Norden bleiben wird, und das liegt nicht an mangelnder guter Absicht. „Ich habe höchst interessante Krankendaten gesammelt, aber ich kann nichts mit ihnen anfangen, weil das Département Le Nord kein Krebsregister hat.“ Das Fehlen eines Krebsregisters ist nicht das einzige Manko: Acht Alkoholikerberatungszentren fehlen in der Region, gar nicht zu sprechen vom Mangel an Chirurgen, Alkohologen, Anästhesisten, Radiologen. Niemand beschwert sich. Im Gegenteil.

Wir verlangen kein Geld vom Staat. Wir wollen unabhängig bleiben. Ich weiß auch gar nicht, ob noch mehr Beratungsstellen wirklich nötig wären. Was bringen die schon? Die Leute dort, die dir helfen wollen, waren doch nie selbst Alkoholiker. Nur jemand, der selbst abhängig war, kann nachvollziehen, wie sich ein Alkoholiker fühlt und welche Hilfe er braucht. (Jean-Paul, 64 Jahre, Anonyme Alkoholiker, Valenciennes)

In der Regionalen Gesundheitsbeobachtungsstation in Lille räumt Olivier Lacoste die Karten mit den düsteren Farben wieder weg. „Besorgniserregend ist“, sagt er, „dass diejenigen, die heute am Alkohol eingehen, gar keine Bergleute oder Fabrikarbeiter mehr sind. Es sind ihre Kinder, diejenigen, die sich an die Situation gewöhnt haben, sie als normal betrachten.“ Diejenigen, die seit je wissen, dass man das Leben hier nimmt, wie es ist.

HEIKE HAARHOFF, 32, ist taz-Reporterin. Die französische Fassung ihres Textes wurde mit dem dritten Platz beim Frans-Vink-Preis 2002 für Journalismus in Europa ausgezeichnet