Schaf im Adelsstand

De-li-ziös! Schon Napoleon Bonaparte war ganz begeistert vom Rhönschaf. Heute sorgt Schäfer Dietmar Weckbach dafür, dass das glattwollige Tier nicht doch noch ausstirbt

von HEIDE PLATEN

Die Hohe Rhön ist eine karge Schöne. An den Berghängen des Schafsteins im oberen Ulstertal sind die Bäume niedrig, die Felsen schroff, Basaltbrocken treten aus den Äckern zutage, liegen als Geröllhalden an den Rändern der Weiden. Die Wiesen und Senken sind sumpfig und feucht. Die Rhön ist eine menschengemachte, herbe Kulturlandschaft. Rau ist das Klima zwischen Wasserkuppe und Schwarzem Moor, kalt und nass, mit langen, harten Wintern. Im kleinen Luftkurort Wüstensachsen im Tal, heißt es, reifen die Kirschen erst im September.

Seit 1991 ist die Rhön, anfangs nicht gerade zur Begeisterung der Bewohner, als Unesco-Biosphärenreservat anerkannt. Dass ausgerechnet Dietmar Weckbach, 38, ein großer, wettergebräunter Mann mit blauen Strahleaugen, unterfränkischer Lebenslust und losem Mundwerk, ihr Markenzeichen bewahrt und mit Hilfe der Reservatsverwaltung erfolgreich vermarktet, kam die Rhöner zuerst ebenfalls hart an. Weckbach züchtet und hütet eine Herde Rhönschafe.

Der Schäfer kam „der Liebe wegen“ in die Region und fühlt sich manchmal auch nach zwanzig Jahren noch wie ein Zugereister. Sein Berufsstand galt bei den bodenständigen, bitterarmen und durch die Lage isolierten Rhönern nicht viel. Sie sahen die wandernden, vagabundieren Gesellen mit Misstrauen kommen und gehen. Weckbachs Familie betreibt die Schäferei in der fünften Generation. Der Ururgroßvater trieb seine Herden durch Süddeutschland. Der Vater kam mit seinen Schafen dann bis in die Rhön. Auf dem US-amerikanischen Truppenübungsplatz fraßen sie die Wiesen in militärischem Auftrag fürs freie Blick- und Schussfeld kurz. Von Rhönschafen hat er allerdings nie etwas gehalten. Zu klein, zu mickrig schienen ihm diese „Schäfchen“.

Dabei ist das Rhönschaf eine der ältesten urkundlich erwähnten Landschafrassen mit eingetragenem Namen in Deutschland. Es sei, heißt es 1844 in den Akten des Fuldaer Hochstifts, von „einer eigenthümlichen Art, welches selbst im Ausland unter dem Namen ‚Rhönschaf‘ gekannt wird. Es ist gelb-weiß mit einem schwarzen Kopf ohne Hörner, trägt eine grobe, wenig gekräuselte, wenig elastische Wolle, ist von großem Körperbau, starkknochig und von großer Mastfähigkeit.“

Das galt für damals. Die heutigen Schafrassen lassen es wie einen Zwerg aussehen. Das Rhönschaf verschwand fast ganz aus der Landschaft, überlebte nur in entlegenen Gegenden. 1997 kaufte der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) die letzten, nicht mehr ganz reinrassigen 241 Nachkommen des hessischen Rhönschafs auf. Das Land und ein Mineralwasserabfüller aus der Rhön gaben Geld. Weckbach pachtete die Herde und verpflichtete sich, die Art zu erhalten und sie im Biosphärenreservat mit ökologisch angebautem Winter- und Zusatzfutter aus der Region zu ernähren und zur Landschaftspflege einzusetzen. Im Ausgleich erhielt er die Vermarktungsrechte.

Fell und Wolle der Tiere bringen ihm nichts ein. Aber das Fleisch liefert er an Restaurants und die alteingesessene Metzgerei Reith. Dort wird es in der Räucherkammer mit Buchensägemehl zu duftenden Salamis und Lammschinken veredelt. Die Kontrolle ist streng. Nur für regional gezüchtete, auf den Rhönwiesen aufgewachsene und vor Ort geschlachtete und zubereitete Schafe darf die Originalbezeichnung verwendet werden: „Rhönschaf“ eben. „Rhöner Schaf“, „Rhöner Lamm“, „Rhönlamm“ oder „Lammfleisch“ werden billiger angeboten, zertifiziert sind sie aber nicht. Das Geschäft gehe gut, sagt Metzgermeister Jürgen Reith, „vor allem mit den Fremden“. Die Einheimischen, erst durch Tourismus und Zonenrandförderung zu bescheidenem Wohlstand gekommen, mögen, seit sie es sich leisten können, lieber Rinder- und Schweinebraten.

Dabei war das Rhönschaf mit dem leichten, feinen Wildgeschmack im 19. Jahrhundert schon einmal eine Delikatesse und sogar ein Exportschlager. Kaiser Napoleon zog mit seinen Truppen mehrfach über die „Frankfurter Straße“ durch die Rhön. Im Oktober 1813 wurde er bei einem Rückzugsgefecht aufgehalten und übernachtete im Norden der Thüringischen Rhön im Schloss des Barons von Buttlar. Im Dorfgasthaus Schwarzer Adler sollen er und seine Offiziere mit Rhönhammel verköstigt worden sei. Er war begeistert und veranlasste den Import der Tiere nach Frankreich. Wanderschäfer trieben fortan große Herden bis nach Paris. Gourmets priesen den Geschmack des Fleisches und erhoben das Schaf in den Adelsstand. An den französischen Tafeln, so die Überlieferung, erhielt das Rhönschaf seinen Namen: „mouton de la reine“, „Hammelfleisch der Königin“.

Dieser wirtschaftliche Erfolg sorgte für die Verbreitung der Landrasse bis nach Ostpreußen. Doch das Verhältnis zu Frankreich, die Einfuhrbestimmungen und auch die Essgewohnheiten der Menschen änderten sich. Mit dem Sinken der Fleisch- und Wollpreise, dem durch Düngemittel intensivierten Ackerfutterbau und der dadurch steigenden Rinderhaltung lohnte sich die Schafzucht für die Bauern nicht mehr. 1960 gab es in den alten Bundesländern nur noch dreihundert ins Herdbuch eingetragene Rhönschafe.

Der vor dem Schlachthof gerettete Restbestand ist Schäfer Weckbachs Passion geworden. Er zieht an seiner Tabakspfeife, blickt auf die Herden, mittlerweile auf über achthundert Tiere angewachsen, zeigt seine beiden großen Ställe: „Das ist mein Himmelreich, mein Leben.“ Aber er ist auch ein moderner Schäfer, ein Unternehmer. Er treibt seine Schafe nicht mehr so weit über Land, wie es seine Vorfahren taten. Kein Schäferkarren mehr, keine monatelangen Wanderungen, dafür ist er auch auf der Weide mit dem Handy erreichbar. Aber er demonstriert seine Hütekunst gerne in alter Schäfertracht, im weiten, grauen Mantel, einst Schutzumhang gegen Staub und Getreidespelzen, auf dem Kopf den gelblich grünen Filzhut mit der Kordel. Manchmal trägt er auch die graue Schäferweste mit den vielen Perlmuttknöpfen, die eigentlich ein aufgenähter Kalender sind und an denen, je nach Größe, die Hütetage und -wochen des Jahres abgelesen werden können. Dazu gehört eigentlich noch eine Hose, die in hohe Lederstiefel gesteckt wird. Die will er nicht anziehen: „Das sieht aus wie früher die SS-Männer. Das mag ich nicht.“

Aber der Schäferstab, unten mit Schippe, oben mit einem Fanghaken versehen, ist noch immer ein unverzichtbares Arbeitsgerät. Geschickt angelt Weckbach damit einzelne Tiere aus der Herde. Der Stab habe noch eine andere Funktion, sagt er und lehnt sich in klassischer Pose darauf. Ruhe sei nun einmal die erste Schäferpflicht: Ruhige Schäfer haben friedliche Schafe. Und die fressen mehr.

Und dann pfeift er seine Herde herbei: „Ihr Mädi, auf geht’s!“ Er treibt sie als geschlossene Gruppe hierhin und dorthin, lässt sie im Kreis traben wie die Kavallerie, bergab, bergauf, kehrt marsch: „Die Feinarbeit machen die Hunde.“ Der Schwerstarbeiter heißt Tiger. Der kleine Altdeutsche Schäferhund rennt und rennt. Er treibt die Herde zusammen, fängt Ausbrecher ein, kneift in Schafsbeine. Weckbach steht still und kommandiert: „Tiger, geh zurück!“ „Tiger, geh besser raus! Vorn, halt auf!“ Die Herde bewegt sich wellenförmig, die schwarzen Schafsköpfe wippen, die Körper drängen sich instinktiv zusammen. Die Schafsstimmen blöken individuell und vielfältig vom tiefsten, dunklen „Bööh“ bis zum hellen, meckernden „Bäähähä“.

Tiger wird am Nachmittag noch mehr rennen müssen. Weckbach schneidet den Tieren die Klauen, die auf den feuchten Wiesen- und Moorböden nicht richtig abgenutzt werden und nachwachsen. Tiger treibt, Weckbach sucht die Schafe heraus, deren Gang unregelmäßig ist, die hinken. Manche kennen das Spiel und verstecken sich: „Die sind richtig geschickte Schauspieler.“ Der Schäferstab kommt selten zum Einsatz. Die Beine der Rhönschafe sind zu dünn für den Fanghaken. Weckbach packt sie lieber mit der Hand, wirft die um die siebzig Kilogramm schweren zappelnden Tiere auf den Rücken. Da bleiben sie, nach Art der Schafe, dann relativ regungslos liegen und lassen die blutige Behandlung mit Messer und Desinfektionsmittel über sich ergehen.

Ob er die Tiere einzeln mit Namen kennt? Nein, da ist Weckbach nicht sentimental: „Schafe haben keine Namen.“ Bis auf eines: Hans ist ein veritabler Zuchtbock, ein makelloses Rhönschaf vom glatten, unbewollten, lackschwarzen und hornlosen Kopf mit der leichten Ramsnase bis zur braunen Halskrause, mit gelbweißem, wolligem Vlies und hohen, staksigen Beinen. Die sollen kurz behaart und fleckenlos sein.

Die Regeln für das, was ein richtiges Rhönschaf ausmacht, sind streng. Keine weißen Flecken, wo sie nicht hingehören, etwa auf Kinn, Wangen, Stirn, keine schwarzen im Fell und an den Beinen. Dieser Standard ist, so Weckbach, nicht ganz einfach einzuhalten. Immer wieder tauchen Merkmale einst eingekreuzter Rassen und unbotmäßige Flecken bei den Lämmern auch mustergülter Rhönschafeltern auf: „Das Schwarz wandert.“ Langsam und vorsichtig stockt er seine Herde auf und achtet streng darauf, nur mit Herdbuchtieren weiterzuzüchten.

Weckbach demonstriert den Unterschied auch immer Wander- und Touristengruppen: „Da steht ein herkömmliches Merino-, dort ein Rhönschaf.“ Für ihn ist das ein Unterschied ums Ganze. Die Vorführungen seiner Hütetechnik können gebucht werden. Er weiß genau, dass sich sein Betrieb nur dadurch und mit Zuschüssen für Arterhaltung und Landschaftspflege über Wasser halten kann. Die Rhön aber sei keine Theaterkulisse und er und seine Herde seien„kein Komödienstadel“. Die Schäferei ist ein hartes Geschäft, ist es immer schon gewesen, die Romantik ein für alle Mal vorbei: „Wenn wir den Menschen hier den Traum von der heilen Welt vorspielen würden, dann hätten sie uns schnell durchschaut.“

HEIDE PLATEN, 56, ist taz-Korrespondentin und taz.mag-Tierreporterin. Sie lebt in Frankfurt am Main