Die Unvollendete

Wie kaum eine andere polnische Metropole sucht Stettin nach seinem Platz in Europa. Und wie kaum eine andere Stadt liegen die Brüche und baulichen Fragmente zwischen einem slawischem Ursprung, einer deutschen Vergangenheit, einer polnischen Gegenwart und einer europäischen Zukunft so offen zutage.Eine Liebeserklärung

von UWE RADA (Text)und BERND HARTUNG (Fotos)

Man muss nur die Augen etwas zudrücken. Nicht rechts und links schauen, sondern geradeaus, auf den Rynek Sienny. Dort stehen zwei Häuser, deren barocke Giebel prunkvoller nicht sein könnten. Nur der blaue und rote Anstrich irritiert. Sind diese Häuser auf dem ehemaligen Heumarkt von Stettin nun alt oder sind sie neu? Ist das Alte Rathaus mit seinen gotischen Fassaden gegenüber Original oder Kopie? Was hat es mit der postmodernen Architektur der neuen Altstadthäuser am Nowy Rynek, dem Neumarkt, auf sich? Sind der Neumarkt und der Heumarkt typische Wiederaufbauprojekte oder touristische Farce, eine Disneystadt für Heimattouristen? Die „jüngste Altstadt Polens“, wie sie der Stettiner Kunsthistoriker Rafał Makała nannte, wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt.

Das hat vor allem mit ihrem fragmentarischen Charakter zu tun. Anders als die östliche Seite des Rynek Sienny, die sich wieder in einer geschlossenen Bebauung präsentiert, ist die Stettiner Altstadt nach Westen hin offen, zeigt sich ganz als Stadtlandschaft der Nachkriegsmoderne. Drei- bis fünfstöckige Häuser mit Licht, Luft und Sonne, die Auflösung der Blockstruktur, großzügige Grünflächen und Spielplätze – das ist nicht nur ein Kontrast zum postmodernen Kulissenzauber der Gegenwart. Es war auch ein bewusster Gegenentwurf zu den polnischen Wiederaufbauprojekten der Nachkriegszeit in Warschau, Breslau und Posen. Stettin, die einst deutsche Stadt, die nach dem Krieg polnisch geworden war, hatte schon in den Fünfzigerjahren die Flucht nach vorne angetreten: in Richtung einer polnischen und sozialistischen Stadt.

Stettin ist eine Stadt der Kontraste. Schlendert man vom Rynek Sienny gen Norden, trifft man auf das „Kwartał Przy Baszcie“, das „Quartier an der Bastei“. Die Bastei, das ist der Rest der ehemaligen Jungfrauenbastei der Sieben Mäntel, eine mittelalterliche Wehranlage, die schon im 19. Jahrhundert als Wohnhaus über- und umgebaut worden war. Bis hierher ist der postmoderne Wiederaufbau der Stettiner Altstadt schon gedrungen; hier findet er auch sein Ende. Keine dreißig Meter vom Basteiquartier entfernt, greifen wie Tentakelarme geschwungene Zubringer und ausladende Abfahrten der autobahnähnlichen Oderbrücke Trasa Zamkowa nach der Altstadt.

Es ist ein aggressiver Stellungskampf zweier ungleicher Stadtarchitekturen, der sich dem Beobachter hier bietet, ein beeindruckendes Schauspiel im Kampf um die Deutungsmacht über die Stadt. Die Nachkriegsbebauung der Fünfzigerjahre, die Verkehrsführung der Siebzigerjahre und der postmoderne Wiederaufbau sind allesamt Bemühungen, die Leerstelle, die die im Krieg zerstörte Altstadt hinterließ, neu zu interpretieren. Doch diese Bemühungen sind allesamt unvollendet, ein Nebeneinander von Fragment gebliebenen Stadtbildern – eine Suche. Ein Versuch, den Standort dieser nur 125 Kilometer von Berlin entfernten Stadt mit ihren 420.000 Einwohnern neu zu bestimmen, einer Stadt mit slawischem Ursprung, deutscher Geschichte, polnischer Gegenwart und europäischer Zukunft.

Am Unterlauf der Oder sind die Ufer besonders hügelig. Eine wunderschöne Landschaft, durch die sich der Fluss seinen Weg bahnt, bevor er ins Stettiner Haff fließt und als Peene, Swina und Dziwna schließlich in die Ostsee mündet. Angesichts der Buchenwälder, Endmoränen und Seen, die diese Landschaft prägen, ist es nicht allzu erstaunlich, dass ausgerechnet hier, auf einem Hügel am westlichen Oderufer, die Geschichte von Stettin begann.

Bereits um die Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert war auf dem Hügel Trzygław eine slawische Handwerkersiedlung entstanden. Mitte des 9. Jahrhunderts wurde die Siedlung um eine Burg ergänzt. Immerhin war die Gegend umkämpftes Gelände. Es war die Oder, die hier schon einmal den Verlauf der polnischen Westgrenze markierte – der Grenze zwischen den piastischen und den deutschen Fürstentümern. Fast vierhundert Jahre blieb die Burgsiedlung polnisch. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts kamen die ersten Deutschen und siedelten unten am Fluss, in der Nähe des heutigen Altstadtmarktes.

Deutsch wurde Stettin allerdings erst, als mit dem Bamberger Kaufmann Jakob Beringer auch ein großzügiger Geldgeber auftauchte. Beringer stiftete der deutschen Gemeinde 1187 eine eigene Kirche, die heutige Jakobikirche. Seit dieser Zeit riss der Zustrom der Deutschen in die spätere Unterstadt nicht mehr ab. Als Stettin 1243 die Stadtrechte erhielt, war die slawische Siedlung auf dem Trzygław verschwunden.

Das deutsche Stettin wurde schnell zum bedeutenden Handelsplatz. Am Ufer der Oder entstand das so genannte Bollwerk, der Vorläufer des Stettiner Hafens. Auf dem Marktplatz bauten die deutschen Bewohner seit Mitte des 14. Jahrhunderts das gotische Rathaus, das den Platz fortan in den südlichen Heumarkt und den nördlichen Neumarkt teilte. Zu dieser Zeit regierte in Pommern die Dynastie der Greifen und machte das Fürstentum zu einem unabhängigen Staat und zu einem Puffer zwischen Brandenburg, Polen und dem Ordensritterstaat. Nicht trotz, sondern wegen seiner Grenzlage wurde Stettin zu einer blühenden Handelsstadt und zum Mitglied der Hanse.

Und es wurde zu einer der bedeutendsten preußischen Festungen. 1720 wurde Stettin zur Hauptstadt der preußischen Provinz Pommern und damit zum Bollwerk gegen Schweden und Polen. Es entstanden zahlreiche Kasernen und Forts, aber auch repräsentative Militärbauten. Die berühmtesten von ihnen, das barocke Berliner und das Königstor, stehen als Brama Portowa und Brama Królewska noch heute.

Sind Festungsstädte eher Festung oder eher Städte? Während sich andernorts in Preußen Garnison und Markt getrennt voneinander entwickelten, begann mit dem Bau der barocken Festungstore, der Kasernen und der Forts eine Auseinandersetzung, die das deutsche Stettin über nahezu zweihundert Jahre lang begleitete. Es ist das erste Ringen um die Identität der Stadt, die der Stadtchronist Maciej Czekała in seinem Buch „Był sobie Szczecin“ (Es war einmal Stettin) trefflich als „Krieg“ bezeichnete – als Krieg der zivilen Stettiner Verwaltung gegen die Militärs.

Es war ein Krieg mit ungleich verteilten Waffen, bei dem die Stadtverwaltung über Jahrzehnte hinweg aus einem einzigen Grund den Kürzeren zog: Bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein behinderten die Forts und Garnisonen die Entwicklung Stettins zu einer modernen Stadt. Für die Preußen war Stettin als Militärstandort weit wichtiger denn als Handelsplatz. Das Ende ist bekannt. Nach den Bombennächten des Januar und August 1944 wurde die Stettiner Altstadt zu neunzig, der Rest der Stadt zu siebzig Prozent zerstört. Aus dem deutschen Stettin wurde das polnische Szczecin.

Im Stettiner Stadtmuseum im Alten Rathaus hängt heute im obersten Stockwerk, dort wo es um die verschiedenen Phasen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg geht, ein Plakat. Es zeigt die neue Landkarte Polens nach der Westverschiebung seiner Grenzen, am Ufer der Oder steht ein großer, weißroter Grenzpfahl. „Na Zachodzie, ziemie czekają!“ steht in großen Lettern auf dem Plakat – „Im Westen wartet die Erde“.

Gleich daneben hängen alte Flugblätter, mit denen die polnische Regierung 1945 um „Repatrianten“, wie die Neusiedler hießen, für die „wiedergewonnenen Gebiete“ warb. „Szczecin jest polski“ – „Stettin ist polnisch“ heißt es in einer Bekanntmachung vom 7. Juli 1945, signiert vom ersten polnischen Stadtpräsidenten Piotr Zaremba. Doch so polnisch war die Stadt noch nicht. Den 1.500 Polen, die am 5. Juli, dem Tag, an dem die Stadt der polnischen Verwaltung übergeben wurde, in Stettin lebten, standen 84.000 Deutsche gegenüber. Erst während der nächsten beiden Jahre stieg die polnische Bevölkerung an, von 26.000 im Dezember 1945 auf 108.000 im Dezember 1946.

Können wir uns heute vorstellen, wie sich ein Neusiedler aus Wilna, ein Arbeitsmigrant aus Zentralpolen oder ein einfacher Soldat fühlte, als er erstmals die Erde betrat, die ihn angeblich erwartete, eine fremde Stadt, die ihm zur neuen Heimat werden sollte? Wie es war, als polnischer Vertriebener in eine weitgehend zerstörte Stadt zu kommen und diese Stadt wieder aufzubauen, nicht als deutsche, sondern als polnische Stadt? Man kann sich einer solchen Vorstellung zumindest nähern, wenn man in einem Buch blättert, das die Stettiner Tageszeitung Kurier Szczeciński herausgegeben hat. „Stettin aus Familienalben“ heißt es und zeigt anhand alter Fotografien, mit welcher Beharrlichkeit und welchem Pioniergeist sich die neuen Bewohner daran machten, in der neuen Heimat Fuß zu fassen.

Zum Beispiel Frau Jasieńska: Inmitten der Ruinenlandschaft hat sie sich mit Freunden und Kollegen für ein Foto aufgestellt. Es sind die Schaufeln in den Händen, die keinen Zweifel daran lassen, dass dies ein Bild des Aufbruchs ist, in eine Zukunft, die mehr versprach als die Gegenwart, auch wenn diese Zukunft noch weitgehend unter Trümmern lag. „Ich bin Einwohnerin Stettins seit Dezember 1945“, kommentierte Frau Jasieńska später das Foto. „Das waren schwere und interessante Zeiten, aber voller Freude – der Krieg war zu Ende. Das waren gemeinsame Trümmerarbeiten, wohl auf dem Plac Orła Białego.“

Andere Fotos, die die Expioniere beim Kurier Szczeciński einschickten, zeigen Mütter und Väter mit Kinderwagen – im Hintergrund die Ruinen der Jakobikirche, der Altstadt oder des Schlosses der pommerschen Herzöge, das nun Piastenschloss hieß. Oder die ersten Obst- und Gemüsestände an der Aleja Wyzwolenia. „Die Kriegszerstörungen“, heißt es, „waren gewaltig. Die Innenstadt, das Hafenviertel und selbst der Hafen lagen in Trümmern. Die neuen Einwohner, die hier ein Dach über dem Kopf gefunden haben, mussten den Wiederaufbau in Angriff nehmen. Auf dem nachdeutschen Gelände wuchs eine andere Stadt als vor dem Krieg, schon mit polnischem Charakter.“

Polnischer Charakter, das war das Stichwort, nicht nur in Stettin. Auch in anderen, ehemals von Deutschen bewohnten Städten, die nach dem Krieg polnisch geworden waren, stand die Suche nach der polnischen Geschichte im Vordergrund. Doch anders als in Danzig, Breslau oder Posen war es in Stettin besonders schwierig, an die polnische Geschichte anzuknüpfen. Die ältesten Gebäude, die Jakobikirche und das Altstädter Rathaus, waren unzweifelhaft deutsch. Nur am nördlichen Flügel des Schlosses machte man sich daran, einen Giebel in seiner alten Gestalt aus der Renaissance wieder aufzubauen. Nicht allzu viel also, um eine polnische Tradition baulich zu begründen.

Wenn das einer wissen konnte, war es Piotr Zaremba. Als erster polnischer Stadtpräsident Stettins hatte sich der gelernte Stadtplaner und Architekt von Anfang an gegen einen Wiederaufbau der zerstörten Stadt ausgesprochen. Zaremba stand der Sinn viel mehr nach „mutigen“ Lösungen. Bereits 1946 hatte er eine erste Konzeption für den Wiederaufbau vorgelegt. Stettin, so war der damals 36-jährige Zaremba überzeugt, habe sich vor dem Krieg in einer Randlage befunden, sei künstlich auf Hamburg und Berlin ausgerichtet gewesen und habe sich nicht entsprechend seiner geografischen Lage entwickeln können. Vor allem aber habe sich die Stadt von ihrem natürlichem Hinterland, nämlich Polen, abgewandt. Damit sollte nun Schluss sein. Wenn die Geschichte schon keine Anhaltspunkte gab, musste eben die Geografie den „polnischen Charakter“ Stettins begründen.

Mutig waren sie in der Tat, die ersten Umbaumaßnahmen, die aus dem nach Westen ausgerichteten Stettin das sich nach Osten wendende Szczecin machen sollten. Wer heute den Stettiner Hauptbahnhof in Richtung Oder verlässt, findet sich auf keiner herausgeputzten Uferpromenade wieder, sondern steht ratlos vor den Nabrzeże Wieleckie, einer mehrspurigen Autostraße entlang des Oderufers. Die war als „Arteria Nadodrzańska“, als „Oderarterie“, bereits in dem ersten städtebaulichen Plan Zarembas aufgenommen worden und sollte den Bahnhof mit dem nördlich der zerstörten Altstadt gelegenen Verwaltungszentrum oberhalb der Hakenterrassen, den nunmehrigen Wały Chrobrego, verbinden. Vor allem aber war sie Zubringer für die in den Siebzigerjahren gebaute Trasa Zamkowa, die sich heute mit der Jungfrauenbastei dieses so unnachahmliche städtebauliche Duell liefert. Die achtspurige Oderbrücke vollendet den Brückenschlag der am Westufer der Oder gelegenen Stadt in Richtung Osten. Und er wurde zum Startschuss für den Bau der fünfzigtausend Einwohner zählenden Großsiedlung Słoneczne auf dem östlichen Oderufer. Stettin sollte Warschau in Zukunft näher sein als Berlin.

„Die Wahl der architektonischen Formensprache wie der urbanistischen Konzepte“, schreibt der Greifswalder Historiker und Slawist Jörg Hackmann über die Stettiner Bau- und Planungsgeschichte der Nachkriegszeit, „können als Aussagen über das Selbstverständnis wie die Weltsicht des Auftraggebers gedeutet werden“, als eine Art „Entwerfen und Propagieren einer neuen kollektiven Identität“. Doch für diese Identität Stettins, so sollte sich bald herausstellen, reichte der Brückenschlag über die Oder nicht aus. Trotz der nahezu vollständig zerstörten Altstadt, trotz des Baus der Arteria nadodrzańska war in den ersten Nachkriegsjahren der „deutsche Charakter“ von Stettin nicht zu übersehen.

Es waren noch immer die Bauten des preußischen und wilhelminischen Stettin, die das Bild der Stadt prägten. Zum Beispiel im Quartier rund um den ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Platz, der nun Plac Grundwaldzki hieß und an die Mietskasernenbebauung von Prenzlauer Berg oder Kreuzberg in Berlin erinnerte. Oder das Straßenraster der Stadt, das auf James Hobrecht zurückgeht. Der war nicht nur Berliner Stadtbaumeister und mit seinem Bebauungsplan von 1862 verantwortlich für Berlin als „größte Mietskasernenstadt der Welt“. Ein Jahr zuvor war Hobrecht noch Stadtbaurat in Stettin gewesen.

Vor diesem Hintergrund war es nicht allzu erstaunlich, dass der „polnische Charakter“ von Stettin nicht nur geografisch, sondern auch städtebaulich in Opposition zum deutschen Stettin formuliert wurde. Piotr Zaremba selbst hatte die Stichworte geliefert. Die Altstadt, daran hatte der Stadtpräsident nie einen Zweifel gelassen, sei „eng und finster“ gewesen. Ein Wiederaufbau hätte dem Ziel, die „Missverständnisse der deutschen Zeit zu beseitigen“, grundlegend gegenübergestanden. Die Gestaltung des polnischen Stettin, sagte Zaremba, solle stattdessen „kühn und konsequent den neuesten Tendenzen des Städtebaus folgen“. Nicht mehr nur der Brückenschlag über die Oder sollte fortan die Stadt charakterisieren, sondern auch eine neue Zäsur in der Architektur.

Kernstück des modernen, sozialistischen Stettin war ein mehrstufiger Bebauungsplan, den das Planungsbüro „Miastoprojekt“ im Auftrag Zarembas Mitte der Fünfzigerjahre für die Oberstadt vorgelegt hatte. Zwischen 1956 und 1960 begann westlich des Rynek Sienny der erste Bauabschnitt. Zwar wurde das Straßenraster der Altstadt weitgehend beibehalten und in Anlehnung an die historische Bebauung auch auf Flachdächer verzichtet. Gleichwohl lobte Zaremba den Plan von Miastoprojekt, weil er anders als in anderen polnischen Städten auf Archaismen verzichtet habe. Die zweite Bebauungsstufe, von 1958 bis 1960, sah die Verbreiterung der Breiten Straße vor. Damit führte erstmals eine Straße aus der Innenstadt direkt auf den Most Długi, die ehemalige Hansabrücke. Im Gegensatz zum ersten Bauabschnitt in der Oberstadt wurde in der Breiten Straße, die später in Ulica Wyszyńskiego umbenannt wurde, deutlich höher gebaut. Am Rande der Altstadt durfte sich Stettin noch kühner, moderner und konsequenter zeigen.

„Anders als in anderen polnischen Städten“, das hieß in den Augen Zarembas vor allem anders als in Danzig. Zwar gab es auch in Danzig Stimmen, die sich entschieden gegen den Wiederaufbau der historischen Rechtstadt richteten. „Hier in Danzig“, schrieb der Architekt Edmund Osmańczyk im April 1945, „lässt mich die Zerstörung kalt.“ Es ist ein ähnlicher Ton wie der von Zaremba, den Osmańczyk hier anschlägt, ein Ton, der schließlich in die Feststellung mündet, dass von Danzig nur das übrig geblieben sei, was jeder internationale Hafen besitzt, also Hafenanlagen, Werften, Fabriken, Arbeitervorstädte. „Mehr“, so Osmańczyk, „brauchen wir nicht. Wir werden Danzig endlich allein nach polnischem Muster und nicht nach kreuzritterlichem Stolz bauen.“

Gleichwohl entschied man sich Ende der Vierzigerjahre für einen Wiederaufbau Danzigs in weitgehend historischer Gestalt. Der heute 81-jährige Wiesław Gruszkowski, der als junger Architekt an diesem Wiederaufbau teilhatte, erinnert sich noch heute an die Gründe, die zu dieser Entscheidung geführt haben: „Die Kulturdenkmäler Danzigs waren von europäischem Rang. Sie wieder aufzubauen, war nicht nur eine regionale oder nationale Aufgabe.“

Ähnlich sah das auch der polnische Generalkonservator Jan Zachatkowicz, dessen Stimme letzten Endes den Ausschlag gegeben hatte: „Dank der Tatsache, dass es [Danzig] einst für verschiedene europäische Kulturen das Tor nach Polen war, gibt es hier zahlreiche europäische Kulturdenkmäler. Es handelt sich nicht nur um polnische Kulturdenkmäler, deswegen dürfen wir unsere Hochschätzung nicht nur auf jene Objekte beschränken, die unmittelbar mit Polen verbunden sind.“

In Danzig also hatte man sehr früh den Wiederaufbau der Stadt mit einer europäischen Idee, ja sogar mit einer europäischen Identität verbunden. In Stettin mit seiner Ablehnung der „Archaismen“ dagegen stand weniger Europa im Vordergrund. Maßgeblich für die Neugestaltung der Stadt war ihre Lage als Grenzstadt zur Deutschen Demokratischen Republik – und dies erwies sich als stärker als jede Neuorientierung. Doch die polnische Zukunft, mit der man sich in der Grenzstadt von der deutschen Vergangenheit abgrenzen wollte, gehörte anderen Städten, Warschau natürlich, aber auch Danzig, Breslau und Posen. Die Hinwendung Stettins nach Osten glich einer neuen Liebe, die nicht erwidert wurde. Aus Warschauer Sicht blieb Stettin immer eine Stadt weit weg, irgendwo am Rande. Zumindest bis 1989, jenem Jahr, in dem nicht nur das Ende der europäischen Teilung eingeläutet wurde, sondern Stettin nun wieder mittendrin lag in Europa.

Unerwiderte Lieben gibt es auch heute, nur sehen sie, am Ende der deutschen und polnischen Eindeutigkeiten, anders aus. Zum Beispiel an der Uferfront der wieder aufgebauten Altstadt. Selbst im Sommer verirren sich nur wenige Studenten und Touristen in den Gassen am Rynek Sienny. Die meisten Geschäfte stehen leer wie auch die Büros in den mit Betongiebeln verzierten Neubauten. Der Versuch der Stettiner Planer, mit dem bereits ab 1984 begonnenen postmodernen Wiederaufbau ein Stück verlorener Stadtgeschichte wieder zu gewinnen, muss sich nun im freien Spiel des Marktes behaupten. Ähnliches lässt sich nicht nur in Stettin beobachten, sondern auch in Elbląg/Elbing, Polens derzeit größtem Wiederaufbauprojekt mit insgesamt vierhundert Häusern. Es ist zugleich das Ende der städtebaulichen Leitbilder und ehemaligen Identitätspolitiken. Das gilt sowohl für die Postmoderne, die in Polen weniger auf historische Versatzstücke, sondern auch auf regionale Baukulturen zurückgreift. Es gilt auch für eine neue Wende hin zur deutschen Geschichte, die in Stettin vielleicht am besten im historisierenden Gestus des Basteiquartiers zu beobachten ist.

Am Ende der Ideologien steht nun auch das Ende der städtebaulichen Visionen. Stadt ist nicht mehr dort, wo sie geplant wird, sondern dort, wo sich ihre Bewohner aufhalten. Zum Beispiel im Jazzcafé, weiter droben, dort wo das gründerzeitliche Stettin mit seinem so lange beklagten „deutschen Charakter“ beginnt. Das Jazzcafé ist einer der angesagten Treffpunkte des jungen Stettin. Von zwölf Uhr mittags bis zwei Uhr nachts treffen sich hier Studenten, Künstler, manchmal auch einige Touristen. Sie trinken Milchkaffee, trockenen Rotwein oder Cocktails, sind in Gespräche vertieft oder lesen Zeitung.

Es ist die Inneneinrichtung, die dem Jazzcafé eine ganz besondere Note verleiht: die Chromtische, auf denen eine pastellgrün schimmernde Mattglasscheibe liegt, der mit Terrakotta geflieste Boden, die bunten Designerlampen an der Decke. Ein Interieur, das modern ist, aber nicht kalt, bunt, aber nicht kitschig. Es ist ein Raum, der viel Aufbruch behauptet, aber seine Geschichte nicht leugnet. Im Jazzcafé im ehemals preußischen Königstor treffen sich jene Polen der dritten und vierten Generation der Neusiedler, die von einem neuen Hang zur Nostalgie ebenso weit entfernt sind wie vom „kühnen“ Blick in die Zukunft, den Piotr Zaremba vorgegeben hat.

Es ist ein vielmehr spielerischer Umgang mit der Geschichte, der diese Generation auszeichnet, ein Umgang mit verschiedenen Vergangenheiten, die nun in der Mehrzahl zur Verfügung stehen. Der Stettiner Journalist Bogdan Twardochleb hat diese hybride Form einer neuen Aneignung von Heimat auf einer Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung einmal die Suche nach den „kleinen Heimatländern“ genannt. Dabei ginge es nicht nur um die deutsche und polnische Vergangenheit, die nach wie vor eher trenne, sondern eher um die Suche nach Gemeinsamkeiten in der Differenz. „Was uns mit den jungen Menschen auf der deutschen Seite verbindet, ist die pommersche Geschichte“, sagt Twardochleb und verweist darauf, dass die Greifendynastie, die bis zur Übernahme Stettins durch Preußen Westpommern regierte, mit den polnischen Piasten verwandt war. Ganz ohne Geschichte darf es in Polen auch nicht gehen.

Ist die pommersche Geschichte in Stettin das kleine Heimatland, so ist das Europa der Regionen in Zukunft die große Heimat. Doch dieses Europa ist noch weit entfernt. An der Toren der Stettiner Werft hängen neuerdings wieder Transparente. Auch einige rotweiße Fahnen sind darunter. Die Rettung der Werft, mögen sie bedeuten, ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung. Vor allem aber ist sie eine Frage, die über Sein oder Nichtsein des Wirtschaftsstandortes Stettin entscheidet. Immerhin ist die Werft mit ihren sechstausend Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Stadt. Hinzu kommen noch einmal zehntausend Arbeitsplätze bei Zulieferbetrieben. Ein Ende des Schiffsbaus käme in Stettin, das sich gerade wieder einmal als „Stadt des Meeres“ präsentierte, einer Katastrophe gleich.

Dass die Werft so enden würde, hätte noch vor Jahresfrist keiner vermutet. Im Gegenteil: Anders als die Stettiner Hafen GmbH, die sich seit der Wende vergeblich darum bemühte, die Häfen von Stettin und Swinemünde wieder zum Tor Berlins zur Ostsee werden zu lassen, galt die Privatisierung der Werft lange als Erfolgsgeschichte. Bei Löhnen über 1.500 Mark arbeitete auch der ein oder andere Deutsche schwarz auf der Werft. Es waren solche Geschichten von verkehrten Welten, von Erfolgen auf polnischer und Hoffnungen auf deutscher Seite, die in den Grenzregionen zwischen beiden Ländern zur Normalisierung beigetragen haben.

War der Werftenkrach in Stettin im Wesentlichen die Folge von Missmanagement und abenteuerlichen Finanzierungsmodellen, gehen andere Probleme auch auf die Rechnung einer falschen Politik, meint Kazimierz Wòycicki. „Jahrelang hat man es versäumt, weitreichende Entscheidungen zu treffen“, kritisiert der Direktor des polnischen Kulturinstituts in Leipzig, der bis vor einem Jahr noch das Stettiner Institut für Deutschland- und Nordeuropastudien leitete. Zum Beispiel hätte man auch auf polnischer Seite eine Europauniversität gründen müssen, und Stettin wäre der nahe liegende Standort gewesen. Stattdessen aber hätten die Stettiner Universitäten keinen allzu guten Ruf in Polen, ganz anders als in Warschau, Breslau oder Posen. Noch immer, scheint es, ist Europa weit weg.

Und manchmal ist es näher, als man denkt. Am Grenzübergang von Linken, keine zwölf Kilometer von der Stettiner Stadtgrenze entfernt, warten jeden Morgen fünfzig Schüler auf ihre Abfertigung. Mit einem Shuttlebus kommen sie aus Stettin oder der am westlichen Oderufer gelegenen Chemiestadt Police, um im mecklenburg-vorpommerschen Löcknitz auf das deutsch-polnische Gymnasium zu gehen.

Längst haben sie erkannt, dass ein polnischer und ein deutscher Schulabschluss die Tür nach Europa öffnet. Deutsche Schüler wiederum wissen, dass die Zukunft auf deutscher Seite nicht in Kleinstädten wie Pasewalk oder Anklam liegt, sondern nach wie vor in Stettin. Mittlerweile lernt jeder zweite Deutsche in Löcknitz Polnisch als zweite Fremdsprache. Auch eine Normalisierung.

Das neue Europa ist auch in Ueckermünde schon spürbar. Namentlich an den Wochenenden ist der dortige Zoo fest in polnischer Hand. Es sind vor allem Stettiner, die den Weg ins Nachbarland finden und dort auf Polnisch begrüßt werden, fast so, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht ist es auch so. In Stettin selbst gibt es keinen Zoo. Und es wird auch in Zukunft keinen geben. So sieht es das räumliche Entwicklungskonzept der Euroregion Pomerania vor. Auch in Zukunft werden also die Stettiner nach Ueckermünde in den Zoo fahren, während die Deutschen aus Pasewalk und Anklam nach Stettin ins Theater kommen oder in die Oper im Schloss der pommerschen Herzöge.

Längst sind die Deutschen in Stettin nicht mehr nur Heimattouristen, und längst sind die Stettiner in Deutschland nicht mehr nur Schwarzarbeiter. Trotz aller Schwierigkeiten findet sich Stettin plötzlich in einer neuen Geografie wieder. Es ist die Geografie eines neuen Europas, eines Europas der Regionen, das für die Schüler in Löcknitz und Stettin, die Zoobesucher in Ueckermünde und die Theatergänger in Stettin wie auch für die Gäste des Jazzcafés im Königstor schon heute greifbar nahe ist.

Das Fragmentarische, das zeigt sich auch in der Stettiner Altstadt, diesem architektonischen Museum unvollendeter Visionen und gescheiterter Hoffnungen, wird man vielleicht schon bald nicht mehr als Makel, sondern als Symbol der Zukunft begreifen.

Während in Danzig mit dem geplanten Bau des ehemals deutschen „Danziger Hofs“ nicht nur das moderne Gebäude der Fluggesellschaft LOT der Nachkriegszeit, sondern auch der Rückgriff auf die europäische Kulturgeschichte der Nachkriegszeit einem unverblümten Historismus zu weichen droht, bleibt die moderne Bebauung in Stettin bestehen.

Trotz historisierender Gesten wie am neuen Basteiquartier kann sich Stettin damit als Stadt der städtebaulichen wie auch ideologischen Collagen und Duelle, als Symbol einer fortdauernden Suche nach Identität in der Geschichte und Gegenwart behaupten: als eine faszinierende Stadt zwischen Polen und Deutschland und Europa.

UWE RADA, 38, ist Redakteur im Berlinressort der taz und beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der deutsch-polnischen Grenzregion. BERND HARTUNG, 35, arbeitet als Fotograf in Berlin. Die Rezeptionistin in Stettin begrüßte ihn mit den Worten: „Schauen Sie sich das Zimmer erst an, es wird Ihnen nicht gefallen“