Der lange Angriff

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Attac und Partner haben eine große Zukunft – als Bewegung für Europa und seine besten Traditionen

„Wir brauchen vor allem einen langen Atem.“ – Was heißt: lang? „Nun ja, Jahrhunderte …“ Pierre Henrichon, Attac Quebec

„Eine andere Welt ist möglich“ – 200.000 Demonstranten zogen am 20. Juli 2001 durch die Straßen von Genua. NGOs aus allen Kontinenten, Gewerkschafter, Christen protestierten gegen die Verwandlung der Welt in eine Warensammlung. Wenige Wochen nach dem G-8-Gipfel stellte der Spiegel die Frage des 21. Jahrhunderts: „Wem gehört die Welt?“ Die Debatte um die Schattenseiten der Globalisierung wanderte aus den Feuilletons auf die politischen Seiten. Kürzel wie IWF, OECD, WTO wurden an den aufgeklärten Stammtischen heimisch.

Und heute, ein Jahr danach? Attac ist in Europa zur wichtigsten globalisierungskritischen Organisation geworden, in Deutschland innerhalb eines Jahres auf 6.000 Mitglieder gewachsen und hält in wenigen Tagen in Marburg seine erste „Sommeruniversität“ ab. Bürgerinnen und Bürger Europas lernen in einer ökonomischen Alphabetisierungskampagne, dass sie nicht mehr oder weniger hilflos den Meinungen der Experten ausgesetzt sein müssen.

Aber die Kluft zwischen dem wachsenden öffentlichen Bewusstsein und dem Fehlen von Politik wird dadurch nur umso sichtbarer. Die Vorschläge des Weltsozialforums, die erbärmliche Entwicklungshilfe durch globale Steuern zu ersetzen, fand auf der UNO-Konferenz in Monterey nur ein schwaches Echo. Der Vorstoß des Finanzministers, in den Finanzoasen nicht nur Terroristenkonten, sondern die ganz normale Finanzkriminalität zu verfolgen, ist versickert. Der Forderung nach einer parlamentarisch legitimierten Wirtschafts- und Sozialpolitik in europäischem Rahmen sprechen die Regierungsabsprachen Hohn. Und so weiter.

Soziale Bewegungen sind auf strategische Erfolge angewiesen. Protest muss die Institutionen erreichen, die Gesetze erlassen, internationale Verträge verändern können – kurz: Er muss den Anschluss an die Politik finden. Das aber wird nach dem 11. September und mit dem Ende des kurzen sozialdemokratischen Jahrzehnts in Europa schwieriger. Dabei wird die Dringlichkeit größer: „Es hätte nicht erst der barbarischen Terroranschläge bedurft, um uns vor Augen zu führen, dass die Welt sich in einer entscheidenden Phase globaler Auseinandersetzungen befindet. Man könnte sagen, wir erlebten nichts weniger als einen ‚Kampf um die Seele des 21. Jahrhunderts‘.“ Schrieb Gerhard Schröder, voller Sympathie für die „jungen Menschen“, die gegen eine Wirtschaftsordnung demonstrieren, die das „Gerechtigkeitsempfinden jedes anständigen Menschen provoziert“. Der Kanzler bekennt sich zum europäischen Modell, das sich „nicht mit schreienden Einkommensgegensätzen und sozialer Ausgrenzung abfindet, wie sie in Afrika, Asien und Amerika offenbar üblich sind“ – und verweist auf eine globale Agenda, die er der UNO vorgetragen hat.

Das reicht nicht. Der 11. September hat die Alternative sichtbar gemacht, die sich seit zehn Jahren vorbereitet. Entweder eine durch die Regeln der WTO gesicherte Hegemonie der großen Kapitale, militärisch gestützt von der imperialen Schutzmacht – oder eine demokratische Welthandelsordnung, eine globale Verwaltung der globalen Güter, eine von der Staatenwelt legitimierte Weltpolizei. Kurz: Der Beginn einer Weltinnenpolitik, deren schärfster Gegner gegenwärtig die USA sind, siehe Kioto, siehe Weltgerichtshof, siehe die andauernde Demütigung der UNO, die politische Degradierung der Natopartner zu logistischen Erfüllungsgehilfen. Die Schamlosigkeit, mit der sich die neuen Cäsaren im Magazin Foreign Affairs derzeit vorrechnen, dass es zwanzig Jahre dauern kann, bis die (einzige potente) Allianz von Russland, China, Japan und Deutschland zustande kommen kann, lässt die Hoffnung auf eine solche Weltinnenpolitik, zumindest vor der nächsten historischen Großkatastrophe, verblassen.

Attac und seine Partner müssen sich über diese Ohnmacht Rechenschaft ablegen. Die radikal auf den Kern der Macht zielenden Forderungen, die diese Bewegungen so attraktiv machen (Weltlastenausgleich, globale Steuern, globale Wirtschaftsdemokratie) mögen nicht nur Sozialdemokraten das Herz wärmen – aber wer sollte sie aus Protest in Politik verwandeln?

Die einzige denkbare Macht ist Europa. Nein, nicht Europa, sondern das soziale und demokratische Europa. Denn das „Empire“, das globale Netzwerk aus Medien, Multis, Geldmacht und Militär, spinnt auch hierzulande seine Fäden. „Es ist die Pflicht jedes Bürgers im 21. Jahrhundert, die Macht der Finanzmärkte zu bekämpfen“ endete der Aufruf, der Attac vor fünf Jahren ins Leben rief. Eine radikale Bürgerbewegung aber muss – gegen die Evidenz des Status quo – davon ausgehen, dass die Institutionen der Demokratien noch den Primat der Politik neu errichten können. Dazu muss sie den Raum der symbolischen Proteste und der Forderungen verlassen und „der Politik Beine machen“, als außerparlamentarische Bürgerwehr, die politische Handlungen erzwingt, nicht fordert. Sie muss kampagnenfähig werden, und das in der „großen Öffentlichkeit“, nicht nur in den Subarenen.

Die Alternative: entweder Hegemonie der großen Kapitale oder eine demokratische Welthandelsordnung

Es ist anmaßend, einer Bewegung die Formen, in denen das geschieht, zu dekretieren: aber sie müssten wohl in der Größenordnung liegen wie (den französischen Lkw-Fahrern abgeguckte) Blockaden der Zufahrtswege zu Steueroasen wie Liechtenstein; eine „Freiwillige Steuerwehr“ (Modell: die frühen Greenpeace-Aktionen), die den Skandal der Steuergeschenke dauerhaft unerträglich macht; die „Aufklärung“ von Wahlkreisabgeordneten, bis sie in der Lage sind, die Regierungsdelegierten in der WTO zu kontrollieren. Und vor allem: eine Art Dauerbelagerung des impotenten Parlaments in Straßburg, bis es seinen Ballhausschwur geleistet hat und die Steuersouveränität der europäischen Bürger, ohne die keine Demokratie möglich ist, durchsetzt. An all dies ist jedoch zur Zeit noch nicht zu denken.

Das nächste Großevent von Attac und Partner wird das „Europäische Sozialforum“ im November sein. Die Notwendigkeit einer europäischen Front gegen das „neue Rom“, um auch nur die geringste der universalistischen Forderungen durchzusetzen; die Dringlichkeit einer inneren Neugründung der Sozialdemokratien; die Propagierung eines anderen Konzepts von Sicherheit statt der Militarisierung des Welthandels. Das alles legt es nahe, „europäische Visionen“ zu entwickeln – und mit transnationalen Kampagnen die Partisanen in den Parteien und Parlamenten zu stärken. Der Niedergang der Sozialdemokratien (und das Ende des „Sozialismus“) hat eine Leerstelle hinterlassen, in der Resignation nistet und die der Populismus besetzt. Attac und Partner haben eine große Zukunft – nicht als protestierende Entlarver, sondern als Bewegung für Europa und seine besten Traditionen. Europatriotisch und geduldig: der Kampf für den Achtstundentag hat hundert Jahre gedauert. Die größte Herausforderung für diese „aktionsorientierte Bildungsbewegung“ ist es, das Denken in langen Zeiträumen neu zu lernen. Auch das hat der Kapitalismus beschädigt.