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Vom Kampf gegen die Leere in Kühltruhe und Bauch. Uraufführung „Das Goldene Kind“ von Kerstin Specht in den Münchener Kammerspielen

Ein offener Bühnenraum, nach hinten perspektivisch verengt, ausgestattet mit normalitätsabsicherndem Lebensstandard: Elektroherd, Spüle, Kühlschrank, Kühltruhe, Waschmaschine, Badewanne und eine große Videowand. Die Bühnenbildnerin Christin Vahl hat ein weißkaltes Ambiente für kleinbürgerliche Sauberkeitsrituale eingerichtet, in dem die Menschen unter der Regie von Monika Gintersdorf störende Farbtupfer hinterlassen: Julia Jentsch als liebeshungrige Tochter, Gundi Ellert als lebensenttäuschte Mutter, Martin Butzke als hausbacken-rechtschaffener Freund. Da weiß man schon, wie es weitergeht – von wegen.

Mit ihrem neuen Stück, „Das goldene Kind“, das sie während ihrer Arbeit an der Hommage für Marieluise Fleißer schrieb, wirft Kerstin Specht Schlaglichter auf das Abdrehen einer jungen Frau. Anna will den Sprung in die Freiheit wagen, noch festgezurrt am Band der Mutter, die sie drangsaliert nach dem Motto: „Du musst es nicht besser haben als ich.“ Als Sprungbrett in die Freiheit glaubt sie Emil und eine mit einem roten Lackgürtel kaschierte Schwangerschaft nutzen zu können. Doch der Sprung führt nur in neue Enge und Zwänge und in die Unfreiheit unstillbarer Begierde, nachdem sie das Kind verloren hat.

Kerstin Specht fährt viel auf an Motiven für Annas Gier: Diabetes und die nörgelnde Mutter, die mediale Scheinwelt von „Madonna“, die Anna die Realität verstellt und ihre pubertären Träume nährt. Emil, eine simple Natur mit Bausparkassenflair, will „trautes Heim, Glück allein“ stiften und schafft es doch nur, müde und abgeschlafft zum Heim, das aber für Anna kein Heim wird, weil sie nicht weiß, was sie dort soll und fremdgeht, um ihren leeren Bauch und ihr leeres Leben mit dem Sperma anderer Männer zu füllen.

Dann fällt Kerstin Specht, die einmal Theologie studiert hat, ein, was diesen eindimensionalen Unpersonen fehlt, die Sehnsucht nach etwas, das größer ist als sie selbst: das „goldene Kind“. Aus einer Kapelle rauben sie das Jesuskind. Schon führt es Anna auf den Pfad der Tugend zurück, was aber gar nicht so einfach ist, denn ihre Liebhaber beharren auf Fortsetzung; deshalb muss erst ein Fön in die Badewanne und später ein Toter in die Kühltruhe. Wozu sonst hat man den ganzen Mist?

Die Autorin liebt bei ihren Stücken einfache Strickmuster und bewährte Beziehungskisten wie die Abhängigkeiten zwischen Mutter und Kind. Nur scheint es diesmal, als ob sie sich für die Gefängniswelten jedes Einzelnen dann doch nur oberflächlich interessiert und nach Schablone entwirft. Der im Programmheft abgedruckte psychologische Überbau über fatale Verknotungen zwischen Müttern und Töchtern ist lesenswert, aber im Bühnengeschehen kaum erfahrbar. Am ehesten manchmal hörbar in der Musik von Constantin Christofides, die prägnant kommentierend die kurzen Szenen verbindet: mal spitz und aggressiv, mal orgelnd gefühlvoll.

Es gibt intensive Momente: wenn sich Schattenrisse zu einer Berührung finden; wenn sich Annas Mutter mit ihrer Nähmaschine als Kindersatz verzweifelt in den Teppich rollt; wenn Anna, eingehüllt in den Teppich, das Klischee der christlichen Urmutter Maria mit Jesuskind bedient und einen Moment der Ruhe findet in ihrer rastlosen Lebensglückbeschreibung, ehe die Polizeisirenen zu hören sind. Aber sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Stück „Das goldene Kind“, die Inszenierung und die Schauspieler dem Liebesächzen und Wutgebrüll zum Trotz in dem steril-kühlen Raum verloren gehen.

VERA BOTTERBUSCH