MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON KOLJA MENSING
: Im Müllhaufen

Håkan Nesser: „Der Kommissar und das Schweigen“. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb, München 2001, 317 Seiten, 20 €

Auch der Schwede Håkan Nesser schreibt Krimis in Serie, und sein Kommissar Van Veeteren trägt ähnliche Züge wie Henning Mankells Polizist Kurt Wallander: Van Veeteren ist geschieden und die meiste Zeit schlecht gelaunt, vertraut auf seine Intuition und hat eine Vorliebe für klassische Musik. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen ihm und Mankells Helden. Während Wallander bekanntlich angesichts des Bösen in der Welt die größten Seelenqualen erleidet und vor lauter Selbstzweifeln zuweilen nicht einmal mehr arbeiten kann, vergleicht Van Veeteren seine Tätigkeit schlicht mit einem „trostlosen Wühlen im Müllhaufen des Daseins“. Van Veeteren ist kein Märtyrer: „Ich muss ja wohl nicht ins Herz der Dunkelheit vordringen“, sagt er und nimmt sich erst einmal einen Tag frei.

„Der Kommissar und das Schweigen“ ist bereits der siebte Van-Veeteren-Krimi, der in Deutschland erscheint. Aus dem Ferienlager einer Sekte verschwinden zwei Mädchen und werden später ermordet aufgefunden. Der Sektenführer gerät sofort in Verdacht. Van Veeteren – Intuition! – ist der Einzige, der an seine Unschuld glaubt. Trotzdem versucht er zunächst, sich in den strengen Dualismus der Sekte einzufühlen, in dem das „Reine Leben“ der sündigen und materialistisch verfassten „Anderen Welt“ gegenübergestellt wird. Schwachsinn, denkt Van Veeteren.

Am Schluss ist er es allerdings selbst, der den Weg in eine andere Welt findet: Auf der letzten Seite quittiert er den Dienst. Er hat lange genug im Müllhaufen gewühlt. Man darf das vorwegnehmen, da in Deutschland der Anschlussband mit einem frühpensionierten Van Veeteren schon einige Zeit vorher erschienen ist. Eigentlich ein netter V-Effekt. Auch bei den Mankell-Krimis wurde die originale Reihenfolge bei der Veröffentlichung der Übersetzung übrigens nicht eingehalten. Erstaunlich ist nur, dass in Wallanders Welt trotz dieser Umordnung das Böse von Roman zu Roman stetig böser wird.

Lob des Schattens

Alexandra Black/Noboru Murata: „Japanische Häuser. Architektur und Interieurs“. DuMont, Köln 2001, 216 Seiten, 25,50 €

Anfang der Dreißigerjahre baute sich der japanische Schriftsteller Tanizaki Jun’ichiro ein Haus. Damals hatten die Segnungen des technischen Fortschritts auch Japan erreicht, doch einen Ästheten wie Tanizaki machte das nicht unbedingt glücklich. Elektrische Schalter verschwanden in Wandschränken und Regalen, das Telefon wurde hinter einer Treppe versteckt, und auf unansehliche Heizkörper verzichtete er lieber ganz. Das größte Problem, stellte Tanizaki fest, war das Licht. Ersetzte man die Papierbespannung der Innenfenster und shoji-Schiebetüren zeitgemäß durch Glas, strömte grelles Tageslicht ungehindert in die Wohnräume. Mit dieser zivilisatorischen Errungenschaften wandte man sich also vollständig von einer Tradition ab, die „die Schönheit eines japanischen Raumes rein in der Abstufung der Schatten“ sah, wie Tanizaki Jun’ichiro ein Jahr nach seinem Hausbau feststellte: In seinem 1933 erschienenen Essay „Lob des Schattens“ versuchte der Schriftsteller, die gesamte japanische Kultur auf den matten Glanz des Schreibpapiers, die schwarzen Lackschalen der Teezeremonie und die dunklen Kostüme des No-Theaters zurückzuführen.

Das architektonische Spiel mit dem Schatten beziehungsweise die von Tanizaki beschriebenen Anstrengungen, im Innern der Wohnräume allein ein „kraftloses, kümmerliches, unbestimmtes Licht“ zuzulassen, das sich „stillvertraulich über die Zimmerwände legen kann“, zeigt nun ein schöner Bildband: „Japanische Häuser. Architektur und Interieurs“ bietet einen kurzen Überblick über die Geschichte japanischer Wohngestaltung von ihren formalen Ursprüngen im Teehaus des 16. Jahrhunderts bis hin zu den Einfamilienhäusern der Gegenwart. In den strohgedeckten minka der Bergdörfer erkennt man genau wie in den aus schweren Balken zusammengesetzten Bauernhäusern die dunkle Linie, die Tanizaki überall wiedergefunden hatte: Vorgezogene Dächer und stumpfe Materialien dienen genau wie Nischen und Trennwände dazu, „dem Schatten Tiefe zu verleihen“.

Selbst das von Eizo Shiina entworfene moderne Landhaus in der Nähe Tokios bricht den hellen Widerschein des makellosen Putzes noch durch Riedgras-Wände, die je nach Lichteinfall umgestellt werden können. Nur im Bad hat der Architekt es nicht mehr wie einst der Bauherr Tanizaki in Kauf genommen, „die praktischen Aspekte in einem gewissen Grad der Liebhaberei zu opfern“: Die Wanne ist aus strahlend weißer Emaille, die Armatur aus glänzendem Chrom.

Fight Club

Chuck Palahniuk: „Der Simulant“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Goldmann, München 2001, 317 Seiten, 8,90 €

Victor braucht Geld. Sein Job in einem historischen Themenpark, der das amerikanische Dorfleben des 18. Jahrhunderts mit stinkenden Viehställen und einem lebensechten Pranger nachstellt, versorgt ihn gerade mit dem Nötigsten. Um ein Sanatorium für seine kranke Mutter zu bezahlen, hat er sich darum einen Nebenerwerb zugelegt. Victor täuscht in teuren Restaurants einen Erstickungsanfall vor und lässt sich dann von einem hilfsbereiten Gast vor dem vermeintlichen Tod retten. Fast immer fühlen seine Retter sich hinterher für Victor verantwortlich und helfen ihm gelegentlich aus einer finanziellen Unpässlichkeit.

„Der Simulant“ ist ein Roman des amerikanischen Schriftstellers Chuck Palahniuk. „Fight Club“ hieß sein Debüt, bekannt durch die Verfilmung von David Fincher. Beide Romane behandeln Obsessionen. Doch während Tylor Durden in „Fight Club“ von körperlicher Gewalt besessen ist, interessiert Victor sich vor allem für eines – für Sex. Wie am Anfang von „Fight Club“ erlaubt uns Chuck Palahniuk also einen Blick in die Welt der Selbsthilfegruppen: „Alle sind da. Die Grabscher aus der U-Bahn. Die Mantelaufreißer … Der Mann, der am Bankautomaten seinen Samen auf der Klappe des Einzahlungsumschlags verschmiert.“

Lustig ist das schon. Victor nutzt seine Gruppensitzungen als Kontaktbörse, und der 1962 geborene Palahniuk hat ähnlich wie sein Kollege Nicholson Baker ein großes Talent dafür, groteske Sexszenen stilsicher in einem Roman unterzubringen. Gleichzeitig jedoch zeichnet Palahniuk das Porträt einer Gesellschaft, in der man fortwährend gezwungen ist, sich vor anderen Menschen etwas einzugestehen: „Hallo. Mein Name ist Victor Mancini, und ich bin sexsüchtig.“ – Willkommen im Club. Aus dem Dorfpranger des 18. Jahrhunderts, den Victor historisch interessierten Besuchsgruppen vorführt, ist im Zeitalter der therapeutischen Massenkultur ein kompliziertes System aus Selbstanklage und selbst gewählter Erniedrigung geworden. Die Spielregeln findet man in den 12-Punkte-Programmen der Anonymen Alkoholiker, Sexsüchtigen und Koabhängigen.

Victor schafft es nicht einmal über die Stufe vier hinaus, auf der der Süchtige sich erinnern soll, „wie er seine Unschuld verloren“ hat: „Der Simulant“ ist ein bitterer Roman, der von der Unmöglichkeit erzählt, in einer Welt, in der jeder an seine Schuld glaubt, zu seiner Unschuld zurückzufinden. Man leidet weiter, und das noch nicht einmal ungern. „Woran möchtest du heute ersticken“, fragt Victor sich, wenn er ein Restaurant betritt.

Dein Pornostar

Pedro Mairal: „Eine Nacht mit Sabrina Love“. Aus dem Spanischen von Alexandra Messerer. Knaur Lemon, München 2002, 190 Seiten, 7,90 €

„Knaur Lemon“ ist eine bemerkenswerte Reihe. Die „frische und prickelnde“ Literatur, die dort in preiswerten Taschenbüchern erscheint, ist dem Verlagsmarketing zufolge für Menschen geschrieben, die „ungefähr wissen, woraus ein Caipirinha besteht“, „Coffeeshops in San Francisco lieben“ und vor allem „gespannt darauf sind, was die Welt sonst noch zu bieten hat“.

Was insbesondere Argentinien zu bieten hat, erfährt man im neuesten Titel der Reihe. Zunächst einmal sind das zwei „bronzefarbene, runde Pobacken“: Sie sind gut zu erkennen, als die Lehrerin etwas an die Tafel schreibt und ihr Rock dabei nach oben rutscht. Wenig später beugt sie sich über eine Schulbank. Der Schüler, der gerade noch etwas in sein Heft geschrieben hatte, nimmt sie von hinten, während sie dabei lustvoll in einen Apfel beißt: Das ist der Stoff, aus dem das Mitternachtsprogramm ist – beziehungsweise die Show des argentinischen Pornostars Sabrina Love.

Als Daniel bei einer Verlosung eine Nacht mit ihr gewinnt, beruhigt er seine Nerven mit den Bildern von der erotischen Begegnung im Klassenzimmer. Möglicherweise legt Sabrina Love ja gar keinen Wert darauf, auf einen gestandenen Mann zu treffen. Daniel, der in einem entlegenen Dorf wohnt und auf einer Geflügelfarm jobbt, konnte bisher nämlich erst Erfahrungen mit Hühnern und Schafen sammeln. – „Eine Nacht mit Sabrina Love“ heißt dieser Roman des 31-jährigen Argentiniers Pedro Mairal. Da Daniels Begegnungen mit den heimischen Nutztieren erwähnt, aber nicht näher ausgeführt werden, kann man sich den eigentlichen Höhepunkt des Buches leicht vorstellen. Sex! mit! einem! Pornostar!

Vor dem Date mit Sabrina muss Daniel allerdings den weiten Weg nach Buenos Aires zurücklegen. Seine zahllosen Begegnungen mit Bauern und Obstverkäuferinnen auf dieser Reise sind von einer charmanten Alltäglichkeit, können jedoch nicht verhindern, dass man immer wieder Seiten überspringt – ähnlich wie man bei Pornovideos versucht ist vorzuspulen. Es interessiert einen schließlich auch nicht wirklich, wie der Klempner nun genau den Weg in die Einbauküche gefunden hat.

Feinde der Macht

Arthur Nersesian: „Manhattan Lover Boy“. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid. Europa Verlag, Hamburg, Wien 2002, 221 S., 16,90 €

Arthur Nersesian ist ein literarischer Untergrundkämpfer. Seine Gedichtbände hat er im Copy-Shop „gedruckt“ und in unbeobachteten Momenten in die Regale von New Yorker Buchhandlungen geschmuggelt – das eine oder andere Exemplar wurde auf diesem Weg sogar verkauft. Auch sein Romandebüt „f-train blues“ erschien im Selbstverlag und wurde zu einem Underground-Bestseller. Schließlich fand Nersesian Ende der Neunziger einen richtigen Verlag. Der Punkmusiker Johnny Temple („Girls against Boys“) hatte gerade Akashik Books gegründet und nahm den Schriftsteller unter Vertrag.

„Manhattan Lover Boy“ erzählt die Geschichte eines ewigen Verlierers. Nicht nur, dass Joey Ngm mit einem kaum auszusprechenden Nachnamen geschlagen ist, er wird zudem von chronischen Verdauungsbeschwerden geplagt und ist auch rein äußerlich kein besonders angenehmes Exemplar der Gattung Mensch. Als ihm dann noch von einem Tag auf den anderen sein Stipendium gestrichen wird, reicht es ihm: Joey nimmt den Kampf mit der Leistungsgesellschaft der Neunzigerjahre auf. Er beginnt einen absurden Rachefeldzug quer durch Nachtclubs, Rechtsanwaltskanzleien und Wall-Street-Büros, und beruft sich dabei unter anderem auf „G. G. Allin, Punkrocker und Scheißewerfer, George Metesky, den Mad Bomber, die nach wie vor kahle Sinead O’Connor, Reverend Don Wildmon, den sündigen Zensor, und andere Freunde der Feinde jeglicher Macht.“

Joey Ngm schimpft, schreit und schlägt um sich, und natürlich ist man die ganze Zeit auf seiner Seite – auch wenn die großkapitalistische Verschwörungsgeschichte, die er schließlich aufdeckt, ziemlicher Unsinn ist. Aber ein wildes Buch wie „Manhattan Lover Boy“ kommt gut ohne ausgefeilte Dramaturgie und großes Finale aus. Man erwartet ja auch von einem Punkmusiker nicht, dass er sich seine Kräfte bis zum Schluss des Konzerts aufspart. Er soll einfach irgendwann von der Bühne fallen. Verdammt noch mal.