Fische in Versen

Beeindruckendes Regiedebüt einer Schauspielerin: Tina Engel inszeniertRobert Schimmelpfennigs Erstling „Fisch um Fisch“ am Stuttgarter Theater Rampe

Das Mädchen findet Dinge. Der Junge nimmt einige von ihnen zum Fischen mit. Den Schlüssel zum Töten oder den Stuhl, um ein Loch damit ins Eis zu brennen. Dinge ohne feste Konturen – zum Fischen im Winter. „Makrele“, „Tintenfisch“, „Steinbeißer“, „Schwertfisch“, „Feuerfisch“, „Scholle“. So türmt der Junge Worte auf in „Fisch um Fisch“ (1994), dem fragilen Wortturm, der wohl Roland Schimmelpfennigs Entdeckung bedeutet hätte, wäre die Aufführungsgeschichte den Entstehungsdaten chronologisch gefolgt.

So aber hat nach dem Else-Lasker-Schüler-Förderpreis 1997 und der verspäteten Uraufführung durch den Autor selbst 1999 in Mainz nun die Schauspielerin Tina Engel sich Schimmelpfennigs Erstlings angenommen. In ihrer ersten Regiearbeit nimmt sie die Rätselhaftigkeit gelassen hin – und gibt sie mit einfachen, genauen Bildern ohne weitere Entschlüsselungsversuche an ihr Publikum weiter. Aus der Bühne des Stuttgarter Theater Rampe ragt schräg eine Insel aus fächerförmig verleimten Holzleisten. Darauf steht ein Tisch, auf den man stellen kann, was nicht herunterfällt: „Auch ein Messer hat darauf Platz.“ Am Ende, kurz bevor der alte Mann an die überstandene Apokalypse gemahnt, am Ende wird auf diesem Tisch, der mit seinen gedrechselten Beinen und seiner rohen Platte zu Schimmelpfennigs Sprache passt, doch noch ein echter Fisch liegen. Dieser Fisch hat einmal „für kurze Zeit in Versen gesprochen“, gesungen und dem jungen Mann die Hand gegeben. Nun liegt er da, einsam, namenlos und dreigeteilt. „Der Schwanz“, sagt der hungrige junge Mann, anstatt zu essen, „ist ein herrlicher Teil eines Fisches, aber der Bauch und der Kopf auch.“

Aus derselben gleichmütig respektvollen Perspektive hat Tina Engel die Geschichte erzählt, ihren Schwanz, den Kopf und auch den Bauch – und dabei vor allem den etwas großen Kopf wunderbar leicht gemacht. Schimmelpfennigs kleines Stück aus der selbstgenügsamen Kunsthaftigkeit zu erlösen, ist ihr nicht gelungen. Immer wieder aber gelingt es den Figuren, über den Umweg über die Gegenstände über sich selbst zu sprechen. Vor allem Eberhard Boeck als der alte Mann, der noch immer nach seiner Frau sucht und die Kinder nicht mehr sehen kann, sobald sie aus der Türe sind, hat diese Fähigkeit. Womöglich wird er langsam blind, ganz sicher aber hat er Angst vor dem Verlassenwerden.

Das alles hat Tina Engel, „die Theaterhimmlische mit dem rauen Charme“, wie sie die Neue Zürcher Zeitung erst kürzlich nannte, einfach so hingezaubert. Dass sich die Berühmtheit – eine der Säulen der alten Schaubühne und auch in der „neuen“ in Caryl Churchills „In weiter Ferne“ zu sehen – für ihre erste eigene Inszenierung das kleine Stuttgarter Autorentheater Rampe ausgesucht hat, geht auf dessen alte Intendantin zurück, hat aber sicher auch damit zu tun, dass hier der Trubel der Weltstädte fern ist und ein Verriss weniger persönlich ausfallen würde. Nun ist auch das Lob verhalten. Doch das passt zu Engel, deren Regiedebüt mehr von ihrer Zusammenarbeit mit dem Brook-Schauspieler Yoshi Oida verrät als von der goldenen Schaubühnen-Zeit.

In Oidas Inszenierung von Yasushi Inoues „Das Jagdgewehr“ spielte Tina Engel ganz allein drei Frauen; einfach, konzentriert, ohne dass es überhaupt nach Spiel aussah. Heute, in Stuttgart, wo statt ihrer neben Eberhard Boeck auch Klaus Gramüller (der Fremde), Anuschka Herbst und Lorenzo Patané (die Jungen) auf der Bühne stehen, sieht man das Spiel schon. Doch es nimmt sich selbst nicht wichtig und passt mit dem unvoreingenommenen Erkunden der Dinge, das aus einem Löffel vielleicht ein Ruder macht, gut zur Ästhetik des leeren Raums, in dem alles von neuem erlernt werden muss.

In den Momenten des stillen Horchens und der Müdigkeit ist dieser stundenkurze Abend ganz groß. Noch mehr von dieser Ruhe gegen die Übermacht der Wortspiele aufgeboten, Schimmelpfennig (Jahrgang 67) und Engel (Jahrgang 50) wären das ideale Theaterpaar. So sind sie ein schönes. Immerhin.

SABINE LEUCHT