Heilsame Erfahrung

Cricket gegen Kolonialherren: Das Sport-Musical „Lagaan: Once Upon a Time in India“ des Filmemachers Ashutosh Gowariker zeigt die britische Gesellschaft als Abziehbild

Mit 900 Filmen pro Jahr verfügt Indien über einen Output, der Hollywood-Produzenten die Schamesröte ins Gesicht treiben dürfte. Das war nicht immer so: Zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft besaß der indische Subkontinent nur einen der größten Kinomärkte der Welt. Die Filme, die dort gezeigt wurden, waren britischen Ursprungs, und sie waren von Beginn an umkämpfte Zeichen, vor allem, wenn sie die Realität der Kolonie abzulichten suchten. Als am 1. September 1938 die spektakuläre Gebrüder-Korda-Kolonial-Produktion „The Drum in Bombay“ Premiere feierte, kam es zu nationalistisch und antikolonial motivierten Ausschreitungen, die auf eine lange Tradition ähnlicher Kino-Riots zurückgingen. Über eine Woche soll die Polizei gebraucht haben, um die eskalierenden Zuschauerunruhen in den Griff zu bekommen.

Heute bestimmt die indische Filmindustrie das nationale Selbstbild Indiens. Und nicht nur das der Gegenwart, sondern auch das der Vergangenheit. Einer der sicher schönsten Filme, die sich – bei aller musikalischen Buntheit, die man gemeinhin mit „Bollywood“ verbindet –, einer Korrektur kolonialer Klischees widmen, ist der knapp vierstündige „Lagaan: Once Upon a Time in India“. Produziert vom begnadeten Song-and-Dance-Superstar Aamir Khan, erzählt das sentimentale Sportmusical des Regisseurs Ashutosh Gowariker vom Kampf der Bauern des Dorfs Champaner mit der Kolonialverwaltung und den ihr kooptierten Rajahs. Das „Es war einmal“ des Titels spielt im Jahre 1893: Schon im Vorspann sieht man eine Münze mit eingeprägter Queen über eine patinagesättigte Karte rollen, während indische Lakaien schmierigen britischen Kolonialoffizieren die Lederstiefel überstreifen, die sie später treten werden.

Wie jedes Jahr fordern die Ausländer eine Landsteuer, Lagaan genannt. Dieses Jahr lässt der Regen auf sich warten, doch die fremden Herren kennen kein Erbarmen. Als einer der indischen Lokalpotentaten (Kulbushan Kharbanda) um Stundung bittet, versucht der Überschurke Captain Russel (Paul Blackthorne) den überzeugten Vegetarier zum Verzehr von Fleisch zu zwingen. Erst als der stolze Bauer Bhuvan (Aamir Khan) Russel beleidigt, lässt er sich auf eine Wette ein. Mit einem Cricketmatch soll die Schuld geklärt werden: Es stehen drei Jahre Steuerbefreiung oder dreifacher Lagaan auf dem Spiel.

„Lagaan: Once Upon a Time in India“ wäre ein schlechtes Bollywood-Musical, würden nicht die letzten anderthalb Stunden mit genau jenem virtuos choreografierten Cricketmatch verschwendet – zwei herzzerreißende Liebesgeschichten um den Frauenheld Bhuvan inklusive. Eine davon dreht sich nach Art des Genres um das Bauernmädchen Gauri (Gracy Singh); die andere um die Britin Elizabeth (Rachel Shelley), die Schwester des Captains. Tief schmachtend und aus einem unbestimmten Gerechtigkeitsgefühl heraus trainiert „die weiße Lady“ heimlich das die Kastenschranken mit nationaler Programmatik überwindende Bauernteam.

Gowarikers Regie tut alles, das koloniale Tabu weiß-weiblicher Begehrlichkeiten nach dem „farbigen Mann“ auszuschlachten: Wenn Elizabeth in endlosen Slowmotions auf Bhuvan blickt, möchte man am liebsten auf Uhren schießen. „Lagaan“ behandelt Weiße als Abziehbildchen, und das ist für ein weißes Publikum sicher eine heilsame Erfahrung. Wenn Frantz Fanon einst die koloniale Welt als in „Abteile geteilt“ beschrieb, dann ist „Lagaan“ ein Ticket in genau diese Welt. Mit einem Unterschied: Der Zug fährt in eine gänzlich andere Richtung. TOBIAS NAGL

„Lagaan: Once Upon a Time in India“, Regie: Ashutosh Gowariker; Indien 2001, 225 Min.