Schmerzensmänner

Morgen führt die Tour de France über den Mont Ventoux. Der Berg ist ein Mythos: Vor fünfunddreißig Jahren gab es hier den ersten Dopingtoten

von RALF BÖNT

Auf einer der vielen Partys der New Yorker Literaturszene traf die Schriftstellerin Ellen Miller unlängst den Boxer Robert Anasi, der gerade seine Memoiren veröffentlicht hatte. Wenig verlegen sagte er, dass Boxen ein guter Sport für Leute sei, die das Gefühl kennen, von ihrem Körper im Stich gelassen worden zu sein. Man würde da gut die resultierende Wut los.

Allein damit dürfte sich Anasis Landsmann, der Radrennfahrer Lance Armstrong nicht zufrieden geben, wenn er am morgigen Sonntag auf der 14. Etappe der diesjährigen Tour de France den mythischen Mont Ventoux in der Provence beradelt. Vor zwei Jahren kam er hier im gelben Trikot zusammen mit Marco Pantani vor den Verfolgern an und ließ dem Italiener in der für den Radsport typischen Höflichkeit den Vortritt. Anschließend behauptete Pantani allerdings, Armstrong „neu vermessen zu haben“, und Armstrong bedauerte, dass er gedacht habe, Pantani habe „mehr Stil“.

Der Ventoux ist dabei unter Radfahrern wohl vor allem mythisch, weil es hier den eindeutigsten Dopingtoten gab, als 1967 Tom Simpson in mörderischer Hitze quasi tot vom Rad fiel. Nach vielen Jahren, in denen der Berg gemieden wurde, wird er neuerdings wie als Mahnmal beklettert. Dass Pantani mittlerweile eine Gerichtskarriere in Sachen Doping eingeschlagen hat, dürfte Armstrong noch weiter zu einem unvergesslichen Ritt motivieren. In der Gesellschaft der Kontrahenten, dem Feld, wird er mittlerweile beinahe ehrfürchtig der „Boss“ genannt. Das hat einerseits mit seinem Perfektionismus zu tun, den man etwa am mit einem Physiotherapeuten eigens ausgearbeiteten Krafttrainingsprogramm für seine Hüftmuskulatur erkennt, das ihm eine unbequeme, aber im Windkanal als vorteilhaft erkannte Sitzposition ermöglicht. Andererseits macht der Amerikaner aber auch abseits der Strecke oft einen guten Eindruck. So beschreibt er in seiner eigenen Biografie, die er mit Ende zwanzig herausgab, nicht nur detailliert, mit welchen Qualen die Chemotherapie verbunden war, die er nach seiner heftigen Krebserkrankung durchlitt, sondern auch, dass dies „keine Hollywood-Story“ sei. Seinen starken texanischen Lokalpatriotismus macht das momentweise fast vergessen. Außerdem ließ er wissen, dass er als Junge ja Fußball spielte, aber einfach „wenn der Ball kam, nicht gut war“. Zusammen mit seiner Mutter suchte er dann was, worin er gut war. In solchen Details macht sich ein längerer Atem bemerkbar, als ihn etwa Jan Ullrich zu haben scheint. Der Rostocker befindet sich schlicht auf der anderen Seite der Steigung. Er musste bekanntlich in einer Pressekonferenz kurz vor der Tour den Konsum von Tabletten, allem Anschein nach Ecstasy, und mithin ein Dopingvergehen eingestehen.

Feinsinnige und einfühlsame Beobachter bemerkten die Möglichkeit, dass der mit 28 Jahren immer noch junge Ausnahmeathlet unbewußt seine Karriere, die ihn schon lange nervt, beenden wollte. Den Ansprüchen, welche die von nur punktuellem Interesse gesteuerte Mediengesellschaft stellt, ist der wortkarge Ullrich ebenso unvollständig gewachsen wie der Realität, dass ein Radsportler seine beste Form nach etwa zwölf Jahren diszipliniertem Training samt Lebensführung erreicht. Das bedeutet nicht weniger als den Verzicht auf die Jugend, und Ullrich leidet längst am Anke-Huber-Syndrom. Die Tennisspielerin hatte mit 26 keinen Bock mehr, dem gelben Filzball hinterherzurennen, um oft Zweite unter Weltklasseleuten zu sein.

Das ganze Drama des jungen Mannes Ullrich entfaltet sich allerdings erst in der Tatsache, dass der beste deutsche Radfahrer aller Zeiten sein Motivationsproblem am Phänomen Armstrong überwunden hatte und nach sehr guter Vorbereitung geil auf das Jahr 2002 war, bevor er mit Knieproblemen die Saison schmeißen musste. „Nicht gut für Ullrich“, kommentierte Armstrong den Vorgang, um dann anzuschließen: „Und nicht gut für den Radsport.“

Dass die Härte des Aufpralls von der Fallhöhe abhängig ist, weiß man spätestens seit Christoph Daum. Hatte der Fußballlehrer und designierte Bundestrainer zu Beginn seiner verhängnisvollen Saison noch jede Menge Applaus dafür bekommen, dass er seine Spieler barfuß über Scherben laufen ließ, um ihnen ihre Möglichkeiten zu demonstrieren, so wurde er wenige Monate später von den Fotografen in unfreundlicher Absicht über Kontinente gejagt, weil er geringe Mengen Kokain konsumiert hatte. Die Begründung war einfach: Er hatte Schmerzen in der Hüfte zu ertragen und konnte sich kaum krankschreiben lassen.

Aber der Stress der Position ist halt auch nicht für jeden was. Leicht kippt die Meinung: Der Leistungsfanatiker ist, frei nach Paul Nizon, definitiv allein. Allein wird übrigens auch Uli Hoeneß sein, der nach Pressemeldungen vor dem Rennen seine Kilos ebenfalls den Ventoux hochzutreten versuchen wird, dem neuen Sponsor seines Fußballklubs zuliebe. Hätte er doch den Münchner Schriftsteller und ehemaligen Radrennfahrer Peter Renner gefragt. Der weiß, dass man den Ventoux entweder mit Stil hochfährt oder gar nicht. Kein Pardon für niemand.