Die Fahrt mit dem Thunderbolt

Das Böse macht vor nichts Halt. Das Komplott, den armen Joe zu Tode zu ängstigen, war schon geschmiedet. Nicht indem wir einen Plan ausheckten, sondern einfach, indem wir ein paar Blicke tauschten. Eine Short Story aus New York Citys vermeintlich gemütlichem Freizeitparadies Coney Island

von BRIAN MCNALLY

Joe dachte nicht im Traum daran, mit dem Thunderbolt zu fahren, denn Joe hatte nicht nur Höhenangst, er hatte Angst vor allem, was zu schnell dahinrast.

Auf der Strecke von Queens nach Brooklyn verfielen wir dem üblichen Hochgeschwindigkeitsrausch verrückt gewordener Teenager, die mit dem Tod kokettieren, denn wir wussten, wir waren unbesiegbar, Tod und Zerstörung waren anderen Generationen zugedacht, aber doch nicht uns. Joe kannte dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit nicht, und während der gesamten Fahrt nach Coney Island schrie er: „Laaangsaaamer faaahren!“

Joe hatte eine katholische High School besucht, wir anderen waren Produkte des staatlichen Schulsystems, in dem das Leben nicht viel wert war. Je mehr wir Joe zu überreden versuchten, mit uns auf dem Thunderbolt zu fahren, desto unerbittlicher bestand er darauf, genau das Gegenteil zu tun, bis uns endlich klar wurde, dass er einfach höllische Angst vor dem Ding hatte.

Natürlich fingen wir alle an, ihn deswegen zu hänseln und zu necken, bis er sich weigerte, überhaupt noch mit uns zu reden. Doch das Böse macht vor nichts Halt, und es war, als besäßen wir alle mit einem Mal telepathische Fähigkeiten. Das Komplott, den armen Joe zu Tode zu ängstigen, war schon geschmiedet, nicht indem wir einen durchdachten Plan ausheckten, sondern indem wir ein paar Blicke tauschten, die eine oder andere Handbewegung machten und einige Male mit dem Kopf nickten, um unsere Abmachung zu bekräftigen.

Joe wusste, er war verloren. Sofort ergriff er Abwehrmaßnahmen: „Auf keinen Fall, auf gar keinen Fall, heute nicht, ich fahre nicht mit der Achterbahn, niemals, und damit basta!“ „Okay, okay, mach, was du willst, aber wir sind nicht hier herausgefahren, um die Königin von Coney Island auszulassen, du Zuckerpüppchen!“

Als wir auf Coney Island ankamen, machten wir rasch einen Rundgang, um uns zwischen den unzähligen Attraktionen zurechtzufinden, dann hielten wir schnurstracks auf den Thunderbolt zu, alle außer Joe natürlich. Der wollte sichergehen, dass er jedem möglichen Entführungsversuch durch seine gewesenen Freunde zuvorkommen könnte, hatten die doch ein Komplott geschmiedet, ihn wegen seiner Angst vor Höhe und Geschwindigkeit zu quälen. Joe traute sich nicht einmal in die Nähe des Riesenrads, aus Furcht, wir hätten etwas wirkliches Hinterfotziges mit ihm vor. Wir doch nicht!

Ich grapschte mir seine Mütze und warf sie Jonas zu, der einen Augenblick mit ihr jonglierte und sie dann hinter seinem Rücken Roger zuschnippte. Der schleuderte sie wieder mir zu. Vergebens rannte Joe dem durch die Lüfte segelnden Kleidungsstück hinterher und wurde wie immer stocksauer. Hey, können wir doch nichts dafür! „Wo geht’s zum Thunderbolt?“, rief Jonas einem Anreißer zu. Der zeigte bloß in die Richtung, in die wir ohnehin gingen. Als seine Mütze zum wiederholten Male außer Reichweite flog und auf den Planken neben einem schattigen Stand mit Zuckerwatte landete, stieß Joe von neuem ein paar sinnlose Drohungen und Beschimpfungen aus. Wir alle rannten los, um Joe zuvorzukommen, und da – plötzlich – ragte sie vor uns auf, weiß, fast transparent, gleichmütig, gelassen: die Königin von Coney Island, die Mutter aller Achterbahnen.

Sie stand geradewegs vor uns, ein geisterhaftes Gebilde, das sich in Wellenlinien aus dem Boden erhob. Ein ohrenbetäubendes Geschrei und Gekreisch durchschnitt die Luft und ging unter im Geratter der Wagenräder: Die Fahrgäste sausten zu einem anderen Abschnitt des Gewirrs aus Stahlträgern und Holz, der sich unseren Blicken entzog. Jonas hob im Laufen Joes Mütze auf, und wir rannten zum Kartenschalter. Joe war uns dicht auf den Fersen. Plötzlich blieb er stehen und blickte staunend auf: Er stand vor dem Ding, vor dem er sich am meisten fürchtete, und wir, verdammt noch mal, wir hatten seine Mütze!

Die Achterbahnwagen brauchen eine Ewigkeit, bis sie die Plattform verlassen, und noch viel länger, um den Gipfel vor dem ersten Fall zu ersteigen. Meine Güte, Tolstoi hätte „Krieg und Frieden“ schreiben können und immer noch Zeit gehabt, seine Socken zu stopfen! Hoch und höher, etwas anderes konnte dieses Stück Eisen und Holz wohl nicht, höher und immer höher, langsamer und immer langsamer, bis ich mir ernsthaft überlegte, ob ich nicht aussteigen und zurückklettern sollte. Geduld war, ähnlich wie bei meinen Freunden, nicht gerade meine größte Tugend. Was mich und die anderen Bestien, die ich meine Freunde nannte, in unseren Sitzen hielt, war einzig der Umstand, dass es länger gedauert hätte, selbst wieder nach unten zu klettern, als in diesem Vehikel quälender Langeweile bis zum Ziel sitzen zu bleiben.

Doch plötzlich, schneller, als ich es fassen konnte, wurde mir die Welt unter den Füßen entrissen. Wagen und Sitz, in denen ich den Bruchteil einer Sekunde vorher noch wie auf heißen Kohlen gesessen hatte, sackten unter mir weg. Ich hing mitten in der Luft, und mein einziger Berührungspunkt mit der physikalischen Welt der Schwerkraft und der Materie war nichts als Luft, ich war im wahrsten Sinne des Wortes „verloren im Weltraum“. Der Wagen, meine Kumpel, alle in dieser gottverdammten Apparatur waren in den Abgrund gestürzt und hatten mich zurückgelassen. Eine bizarre Laune des Schicksals hatte mich ruckartig aus meinem Sitz hochgerissen, mein Untergang war besiegelt.

Joe hatte Recht: Wer mit diesem Ding fuhr, der kam dabei um. Ich war am Ende, gleich würde mein Körper am Boden zerschellen. Doch da raste ebenso plötzlich auch ich der Erde zu, verzweifelt versuchte ich, den Wagen und meine Gefährten einzuholen, die mich ganz allein im Weltraum hatten schweben lassen. Farbflecken flogen vorbei, jede Zelle meines Körpers war vollkommen taub und erstarrt. Ich wohnte dem ganzen Vorgang bei wie ein Beobachter in der Ferne, sah mir selber zu, in panischer Angst und zugleich distanziert.

Eine Eiseskälte erfasste mich, ich spürte wieder meine Hände und sah sie vor mir, weiße Knöchel im Todeskrampf, die den Sicherheitsbügel umkrallten. Ich war wieder in mir selbst, ich würde leben! Mein Gott, ich würde leben!

Der Thunderbolt stürzte nach vorn, wild entschlossen, das, was er einmal angefangen hatte, auch zu Ende zu bringen. Die Schienen stiegen jetzt steil vor uns auf, und als wir die Talsohle erreichten, machte ich mich auf einen jähen Anstieg gefasst. Stattdessen wurde der Wagen heftig nach rechts gerissen, scharf nach rechts, hundertachtzig Grad nach rechts! Meine Eingeweide rasten immer noch nach oben, jedenfalls bildeten sie sich das ein, ich dagegen bewegte mich in eine andere Richtung. Die Schienen, die nach oben führten, waren eine Täuschung. Wieder hatte der Thunderbolt mich zum Narren gehalten. Mir war speiübel. Da rutschten meine Eingeweide wieder an ihren angestammten Platz zurück, nur um an der nächsten Kurve wieder weggeschleudert zu werden. Diese verfluchte Höllenmaschine gab mir überhaupt keine Gelegenheit, meine Innereien zusammenzuhalten!

Der Thunderbolt setzte seine Höllenfahrt fort. Hinauf, hinüber und plötzlich hinab, das war wie eine böse Frau, die dir, ganz gleich, wie schlecht sie dich behandelt, kaum dass du dich damit abgefunden hast, zehnmal so schlimme Dinge antut. Welche Bußübungen auch immer du dir auferlegst, sie stößt dich in den Staub, ein Schrecken jagt den anderen. Aber welche Erregung, wie eine Droge, wieder und wieder kehrst du zu ihr zurück, dem Rausch verfallen. Was kommt jetzt? Mehr Schmerz und Leid? Kann es überhaupt noch ärger kommen? Das Furnier des Lebens wird abgehobelt. Halt dich fest! Gibt es denn kein Ende?

Wie ein verwundeter, liebeskranker, geprügelter Hund begann ich Gefallen an diesem neu entdeckten Masochismus zu finden, doch bevor ich wirklich auf den Geschmack kommen konnte, war auch schon alles vorbei. Der Wagen verlor so rasch an Fahrt, dass mein Magen gegen den Sicherheitsbügel gepresst wurde und mir die Finger zerdrückte, die immer noch wie festgeklebt waren. Der Mann mit dem großen Hebel trat vor und betätigte die Bremsbacke vor ihm, die Wagen hielten auf der Stelle an, dann ruckten sie noch ein, zwei Meter nach vorn und rollten langsam zum Ausstieg neben der hölzernen Plattform.

Wie man sieht, war es eigentlich gar nicht so schlimm. Also wollten wir gleich wieder von neuem fahren. Joe hatte in sicherem Abstand auf uns gewartet, in dem vergeblichen Bemühen, seine Mütze wiederzubekommen. „Wie war’s denn?“ „Totaler Beschiss“, kam die Antwort, und wir alle fielen ein: „Bloß weg von hier, das Ding würde nicht mal meiner Großmutter Angst einjagen, das Scheißding wird völlig überschätzt, ist doch ätzend langweilig“, und so weiter und so fort.

Ich sah die Skepsis in Joes Miene, aber noch etwas anderes stand ihm im Gesicht geschrieben: Der „Ich muss es wissen“-Blick. Ungezügelte Neugier nagte an seinem Innersten, er hatte keine Chance mehr. Rasch rannten wir zu den Wagen. Jonas warf Joe seine Mütze zu und murmelte, wir müssten möglichst noch vor dem Stoßverkehr aus Brooklyn verschwinden. Ich sah, wie Joe seine Schritte verlangsamte und stehen blieb. Die Vorstellung, die Drachen seiner Furcht töten zu können, hatte von ihm Besitz ergriffen, es war nur noch eine Frage der Zeit.

Roger war gerade dabei, einen Elefantenwitz zu erzählen, da wurde der Sicherheitsbügel von hinten über Joes Kopf gelegt und schnappte ein. Bis dahin hatten wir Joe auf andere Gedanken gebracht, doch jetzt schlichen sich wieder Zweifel bei ihm ein, und wir setzten unsere Ablenkungsmanöver fort.

Der Wagen begann den Aufstieg, langsam, fürchterlich langsam. Joe begann sich wieder zu entspannen. „Ist das alles?“, fragte er. „Im Grunde, ja, es wird noch ein bisschen besser, aber nicht sehr.“ Mehr Scherze und mehr Albernheiten, während der Wagen weiter nach oben ruckte. Joe wurde unruhig. Jonas saß auf der einen Seite, Roger auf der anderen, Joe in der Mitte. Ich saß auf dem Vordersitz. Der Wagen erreichte wieder den Gipfelpunkt, dann brach die Hölle los!

Joe wurde leichenblass, wie nur Leichen leichenblass sein können. Er klammerte sich so krampfhaft an dem Sicherheitsbügel fest, ich hätte schwören können, dass seine Fingerknöchel durch die Haut drangen. Ich saß verkehrt herum auf meinem Sitz, ihm gegenüber. Ich sah, wie seine Lippen versuchten, uns zu verfluchen, doch kein Laut entrang sich seinem Mund. Man spürte, wie die Trockenheit aus jeder seine Drüsen noch das letzte Tröpfchen Feuchtigkeit sog. Seine Augen wären fast explodiert, so weit traten sie aus ihren Höhlen. Der Horror, der ihm im Gesicht stand, war mit Worten nicht zu beschreiben.

Er wusste, er würde sterben, aber im Fall, dass er es doch nicht tat, würde er uns bestimmt umbringen. „Iiich briiing eeeuuu…“ Vor Angst gefrieren ihm die Worte. Außerdem versuchen Roger und Jonas inzwischen, Joe aus dem Wagen zu werfen. Der ist so versteinert, dass er nicht einmal mehr schreien kann, ein paar klägliche Tränen kullern ihm aus den Augenwinkeln und bleiben auf seinen Wangen kleben. Ich versuche, seine Finger vom Sicherheitsbügel wegzuspreizen. Er kann nicht sprechen, aber seine Blicke sprechen Bände.

In ihnen liest man Widersprüchliches: „Ich bring dich um, bitte, bitte, hab doch Erbarmen, bitte, bitte, tu’s nicht, oh Gott, nimm nur nicht meine Finger vom Sicherheitsbügel, die versuchen, mich hinauszuwerfen.“ Joe ist so starr vor Schreck, dass er keine Aussicht hat, sich zu wehren. Inzwischen haben Roger und Jonas ihn an den Ellbogen gefasst und versuchen ihn unter dem Sicherheitsbügel hindurch hinauszuhieven. Zwei von Joes Fingern habe ich schon losbekommen, und ein dritter wird gleich folgen. Joe ist todübel. Seine Kräfte schwinden, da die Angst seinen halbherzigen Widerstand lähmt. Joe ist nur noch eine wimmernde Masse, nur wenn wir großes Mitleid mit ihm haben, hat er eine Überlebenschance. Mitleid ist nur ein anderes Wort für „nichts zu verlieren“. Mitleid?

Tut mir Leid, Joe, für Korinthenkacker ist auf diesem Planeten kein Platz. Vier Finger sind schon abgespreizt, und ich merke, wie er den letzten Kontakt mit dem Sicherheitsbügel verliert. Ein Schrei gellt durch die Luft und übertönt den Lärm des Thunderbolt: „Neeeeeeiiiiiin!!!“ Sie heben Joe aus seinem Sitz, mein Gott, die bringen’s doch wirklich fertig! Ich greife hin, um ihn zu packen, doch plötzlich neigt sich der Wagen nach links, und ich werde in meinen Sitz zurückgedrückt. Joes ganzer Körper windet sich in den ausgefallensten Verrenkungen, vergebens versucht er, Jonas und Roger daran zu hindern, ihn aus dem Wagen zu stoßen. Inzwischen ist Joe so durchgedreht, dass er sich dem Griff von Roger und Jonas doch tatsächlich fast entwunden hat, und wenn ihm das gelingt, wird er wahrhaftig sterben.

Ich packe seine Gürtelschnalle und halte mich mit aller Macht fest. Joe erhebt sich aus seinem Sitz, und eine gewaltige Fliehkraft zieht ihn aus dem Wagen. Ich zerre ihn mit meinem ganzen Körpergewicht nach unten, mein Arm fühlt sich an, als wäre er aus dem Gelenk gesprungen. Ich lasse nicht los. Joe ist aus seinem Körper ausgetreten. Ich weiß, wenn das alles ausgestanden ist, wird er einen dauerhaften Gehirnschaden davongetragen haben. Ich hoffe nur, er kann sich an nichts erinnern. Verzweifelt greifen Roger und Jonas nach Joe, um ihn im Wagen zu halten. Joe ist nur noch ein Wackelpudding, der auf seinem Sitz schwabbelt. Wieder Schreie, aufblitzende Farben. Heftige Stöße reißen unsere Körper zur gleichen Zeit in entgegengesetzte Richtungen. Der Wagen neigt sich nach links, dann scharf nach rechts, nur um erneut heftig nach links zu ziehen.

Der Bremser tritt vor und legt den Hebel um. Die Bremsbacke greift, löst sich wieder, langsam gleitet der Wagen zur Plattform und kommt zum Stillstand. Unglaublich, aber wahr: Joe lächelt. „Hey, war gar nicht so übel.“

Roger und Jonas packen ihn bei den Schultern und drücken ihn wieder in seinen Sitz. Ich nehme seine Hände und lege sie auf den Sicherheitsbügel. Wir nicken dem Bremser zu, dass wir noch einmal fahren wollen. Joe versucht, sich gelassen zu geben, doch dann rollt der Wagen wieder von der Plattform, und Joes Gemütsruhe ist im Nu verflogen – der Thunderbolt tritt von neuem seine Himmelfahrt an.

Aus dem amerikanischen Englisch von HANS-CHRISTIAN OESERBRIAN MCNALLY, ein 19-Jähriger im Körper eines 61-Jährigen, der aussieht wie fitte 35, ist ursprünglich Musiker und arbeitet hauptberuflich als Fotograf. Er lebt in Kalifornien und New York City. Die hölzerne Achterbahn Thunderbolt, 1925 gebaut, war bis 1983 in Betrieb. Einen tödlichen Unfall gab es 1925. Als Kulisse diente der Thunderbolt 1977 für Woody Allens Film „Annie Hall“. Im November 2000 wurde er abgerissen