Alles oder Nichts

Boogerd gewinnt die 16. Etappe der Tour, Armstrong baut Vorsprung aus und Botero ist endlich in seinem Element

BERLIN taz ■ Für die meisten Radprofis wäre es eine Katastrophe, als Fünftplatzierte in der Gesamtwertung der Tour de France, wie Santiago Botero letzten Sonntag am Mont Ventoux, 15 Minuten zu verlieren und auf Rang 18 zurückzufallen. Nicht so für den Kolumbianer. „Ein zwiespältiges Gefühl“ sei es gewesen, sagte der 29-Jährige. „Auf der einen Seite war es ein trauriger Tag, weil ich auf das Podium wollte und dafür acht Monate trainiert habe.“ Andererseits gab ihm der Einbruch die ersehnte Freiheit, „endlich ausreißen zu können“. Genau das tat er bei seinem Etappensieg am Dienstag.

Auf der gestrigen Königsetappe in den Alpen entwich Botero nur am Galibier, dann hängte er sich brav an Lance Armstrong, der mit einem rasanten Schlussspurt dem Niederländer Michael Boogerd nach dessen langer Solofahrt fast noch den Tagessieg weg schnappte und seinen Vorsprung in der Gesamtwertung weiter ausbaute. Botero wurde Sechster. Dafür ist aber heute wieder mit dem Kolumbianer zu rechnen, da ihm das nicht ganz so schwierige Profil der letzten Alpenetappe besser liegt.

Santiago Botero ist ein Mann für das Alles oder Nichts. „Wenn er super ist, ist er super, wenn er nicht super ist, ist er gar nicht da“, drückt es Lance Armstrong aus. Die Verantwortung als Kapitän, die er nach dem Sieg im Zeitfahren in seinem Kelme-Team übernehmen musste, lastete schwer auf ihm, denn das hieß: kein Risiko. Nichts für Botero. „Jeden Morgen habe ich mit ansehen müssen, wie sich Leute davonmachten, und ich konnte nicht mit, sondern musste immer nur denken: Gesamtwertung, Gesamtwertung“, schilderte er seine Seelenqualen. „Ich habe gelitten.“ Und zurückgedacht an die Tour 2000. Da war er nur als Helfer von Heras und Escartín gestartet, gewann aber eine Alpenetappe und das Bergtrikot.

Dabei ist er keineswegs solch ein Bergspezialist wie die meisten seiner Landsleute. „Ich bin einer für jedes Gelände“, sagt er, stark im Zeitfahren, auf Flachetappen, in den Bergen. Kein Stilist, sondern ein Kraftfbolzen, dem man die Anstrengung jederzeit ansieht. Angefangen hat Botero in seiner Heimatstadt Medellín als Mountainbiker. Bei einem Jugendrennen war er einmal so überlegen, dass er disqualifiziert wurde, weil man annahm, er habe geschummelt. Ähnliches widerfuhr ihm nach seinem Wechsel zum Straßensport und ins spanische Kelme-Team. Wegen eines unzulässigen Testosteronwerts wurde er gesperrt, bis er durch Tests in einer Klinik nachweisen konnte, dass sein natürlicher Testosteronwert so hoch war.

In Medellín trainiert Santiago Botero, der an der dortigen Universität ein Betriebswirtschaftsdiplom erworben hat, aus Angst vor Entführungen ausschließlich auf der gut bewachten und belebten Ausfallstraße zum Flughafen. Ein weiterer Grund, die Einsamkeit des Ausreißers auf einer Tour-Etappe in vollen Zügen zu genießen. MATTI LIESKE