Das Riesenspielzeug

Bei einem Fachmann für Schiffshebewerke

von GABRIELE GOETTLE

Hans Jürgen Völter, ehem. Leiter d. Schiffshebewerkes Niederfinow bei Eberswalde, derzeit techn. Mitarbeiter d. Wasser- und Schifffahrtsamtes Eberswalde, m. d. Fachgebiet Schiffshebewerk. Einschulung 1948 i. d. Volksschule i. Wüstmark, Klasse 5–8 in Pampow, Klasse 9 i. Crivitz, Klasse 10 i. Schwerin, Abschluss 1958: Mittlere Reife (gut). 1958–1962 Lehre als Fernmeldemechaniker i. d. Signal- und Fernmeldewerkstatt i. Schwerin (Abschluss: gut). Von 1961–1963 Wehrdienst bei der Volksarmee. 1963–1966 Studium d. Schiffselektronik (Abschl.: gut, wurde n. d. Wende 1994 als Diplom anerkannt). 1966 Arbeitsaufnahme als Ingenieur f. elektr. Anlagen b. Wasserstraßenamt Eberswalde (jetzt Wasser- und Schifffahrtsamt). Arbeitsgebiet: Betreuung aller E-Anlagen, einschl. Stark- und Schwachstromanlagen, d. h. von der Trafostation bis hin zu Telefon- und Funkanlagen. 1976 Beförderung z. Leiter d. Schiffshebewerkes Niederfinow. Ab Ende 1990 (durch Abschaffung dieser Stelle und Aufteilung d. Leitertätigkeit auf verschiedene Sektionen), Arbeit als technischer Mitarbeiter (Fachgeb. Schiffshebewerk). Mitglied der SED v. 1975–1989. Auszeichnungen: 1x Aktivist u. sportliche Ehrennadeln (v. Bronze bis Gold) z. DDR-Zeiten sowie sportl. Ehrennadeln (v. Bronze b. Gold n. d. Wende). Die Ehrennadeln sind v. Sportkeglerverband Brandenburg e. V. u. v. Kreissportbund Barnim e. V. (seit 1978 Vors. d. Kreisfachverbandes Kegeln/Eberswalde, nun i. Barnim). Veröffentlichung: 1 Besucherinformation üb. d. Schiffshebewerk (z. DDR-Zeit). Herr Völter ist am 12. Juni 1941 i. Wüstmark/Schwerin geboren, sein Vater war Schneider, die Mutter Hausfrau. Er ist verheiratet u. hat 2 Kinder.

Schiffshebewerke sind Vorrichtungen zur Überwindung großer Gefällestufen in einem Kanal. Mittels verschiedener Hebetechniken wird das Schiff aus dem höher gelegenen Kanalabschnitt in den tiefer gelegenen befördert und umgekehrt. Das kann durch Schleusen geschehen, durch geneigte Ebenen oder mit Hilfe von Hebemaschinen. Die erste und älteste Schiffshebevorrichtung war die Muskelkraft von Mensch und Tier. 600 v. Chr. ließ Periander, Tyrann von Korinth, über die sechs Kilometer breite Landenge von Korinth den Diolkos bauen, einen gepflasterten Hohlweg, durch den die Schiffe, auf Schlamm und Fett gleitend, über den Isthmus ins andere Meer befördert wurden. Es waren vor allem Kriegsschiffe. Noch im Jahr 31 v. Chr. transportierte Octavian seine gesamte Kriegsflotte von 250 Schiffen über diese geneigte Ebene. Das Prinzip der schiefen Ebene wurde über lange Zeit beibehalten und besonders umfangreich im frühkapitalistischen England ausgebaut zur Beförderung der Kohlenkähne durch die Kanalisation der Grubengebiete (bald auch schon mit Hilfe von Wasserkraft und Dampfmaschine). Dieses Kanalisationssystem, ein engmaschiges Netz von Binnenwasserstraßen, war übrigens eine wesentliche Voraussetzung für Englands industrielle Revolution. In Deutschland wurden erst Mitte des 19. Jh. solche Kanäle in Betrieb genommen, so der Elbing-Oberländische Kanal im ehemaligen Ostpreußen. Er heißt heute Kanal Elblaski und ist mit seinen vier schiefen Ebenen das heute älteste noch tätige Trockenförderungssystem der Welt. Zur Überwindung größerer Höhenunterschiede eigneten sich auf Dauer aber weder geneigte Ebenen noch Kammerschleusesysteme. Deshalb wurden ab 25 Metern, lotrecht arbeitende Hebemaschinen eingesetzt, um Schiffe über hohe Geländesprünge zu bringen. Da es sich aber um eine aufwendige und sehr komplizierte Maschinerie handelt, sind heute nur noch ein knappes Dutzend Hebewerke weltweit in Betrieb. Eines davon steht ganz in der Nähe Berlins, in Niederfinow.

Wie ein Riesenspielzeug aus dem Märklin-Baukasten ragt der filigrane Koloss, 60 m hoch, 27 m breit, 94 m lang, über die Baumwipfel hinweg und ins Odertal hinein. Eine 146 Meter lange Kanalbrücke überwindet die Distanz zum Hang und verbindet die obere Ausfahrt des Hebewerks mit dem Kanalbett des Festlandes. Wer von Norden kommt, fährt unter ihr hindurch, während oben die Schiffe schwimmen. Um die 36 Meter Höhenunterschied zu überbrücken, befördert man sozusagen einen Teil des Kanals, eine Schiffslänge Wasser, in einem Riesenfahrstuhl auf und ab. Scheinbar mühelos schwebt der Trog mit den Schiffen hinauf und hinunter, seit fast 70 Jahren. Nach der Jahrhundertwende geplant, durch den 1. Weltkrieg verschoben, wurde 1924 mit dem Bau der Schiffshebewerkanlagen begonnen. Der Oder-Havel-Kanal war unter Kaiser Wilhelm gebaut und bereits 1914 in Betrieb genommen worden als Großschifffahrtsweg Berlin–Stettin und weiter in die Ostsee. Eine Schleusentreppe aus vier Schleusen überbrückte 20 Jahre lang, provisorisch die 36 Meter Höhenunterschied ins Odertal. Am 21. März 1934 wurde das Schiffshebewerk eröffnet. Die Nazis nutzten die Gelegenheit, sich diese technische Großtat als eigene Leistung anzurechnen, obgleich sie weder mit Planung noch Bau etwas zu tun hatten. Das Schiffshebewerk erregte Aufsehen, es sprengte alle Maßstäbe, war ohne direktes Vorbild, übertraf andere und ältere Schiffshebewerke an Größe und Raffinesse. Es war zu jener Zeit das größte und modernste Senkrechthebewerk der Welt. Es gilt auch heute noch, aufgrund seiner hochwertigen Verarbeitung und jahrzehntelanger sorgfältiger Wartung und Pflege, als eine sehr zuverlässige und solide Anlage.

Herr Völter erwartet uns bereits vor dem flachen Betriebsgebäude neben dem Schiffshebewerk und führt uns in sein noch in schlichter DDR-Manier ausgestattetes Büro. Zwei große Kachelöfen deuten darauf hin, dass die feuchten Wintermonate hier am Wasser sehr kalt werden können. „Man gewöhnt sich …“ sagt Herr Völter, er wirkt norddeutsch-prosaisch, wie ein Mensch, der eigentlich nicht so gerne viele Worte macht. Dennoch hat er uns einen ganzen Tag zur Verfügung gestellt. „Das war damals so, dass ich die Wahl hatte, da waren im Angebot zwei Stellen beim Wasserstraßenamt, eine in Grabow, die andere in Eberswalde. Ich habe mich auf die mit der besseren Gehaltsgruppe beworben und wurde genommen, für Eberswalde. Und hier habe ich dann gleich mein Gesellenstück, oder meine Diplomarbeit – wie man will – gebaut, eine neue Trafostation, die steht da draußen, ist immer noch in Betrieb. Sie hat die alte praktisch abgelöst, die entsprach nicht mehr der TGL … der DIN-Norm, wie’s heute heißt. So eine Trafostation ist ja an sich nichts Besonderes, aber hier … mit dem ganzen Erdungssystem, das war schon ein bisschen komplizierter. Die gesamte Anlage muss ja vor Kurzschlüssen gesichert sein … damit habe ich mich damals hauptsächlich beschäftigt, und 1976 ging dann unser alter Amtsvorstand in den Ruhestand – einige Leute sind’s immer, die nachrücken in so einem Moment – so kam es, dass ich hier Leiter des Schiffshebewerkes wurde. Und da gehörte damals ja nicht nur die ganze Technik dazu, da gehörte auch das Personal dazu, und auch die Schifffahrtsbelange … das war schon ein bisschen umfangreicher als heute. Aber diese Leiterstelle wurde ja abgeschafft. Gleich nach der Wende kamen Ingenieure und Verwaltungsleute aus dem Westen, die haben hier alles umgekrempelt und dem westlichen Standard angepasst. Heute ist das Personal für sich, der Bau für sich, die Technik, und keiner ist mehr da, der den gesamten Überblick hat, aber so ein Werk braucht eigentlich einen, der den Hut auf hat, der die Verantwortung übernimmt … das muss ja nicht ich sein. Nur was wir heute haben, ist die Verschleppung notwendiger Maßnahmen, wie der Anstrich des Hebewerkes, der ist überfällig, wir haben lange Wartezeiten für alles und eine dreimal so große Bürokratie wie zu DDR-Zeiten. Aber wir gucken natürlich alle, dass die Sache ihre Ordnung hat. Ich mache weiter die Technik vom Hebewerk und mein Nachfolger für die übrigen Belange, der Herr Schumacher, der kümmert sich Gott sei Dank, weil er ein fleißiger Mensch ist und auch Ahnung hat, sogar von der Technik.“

Herr Völter sucht in einem Schrank nach seinem Faltblatt, das es vor der Wende als Besucherinformation gab, und tatsächlich findet er noch eins. Es ist postkartengroß gefaltet und schwarzweiß gedruckt. Auch die jetzige Broschüre reicht er uns. Sie informiert auf 30 Seiten umfangreich auf Hochglanz und in Farbe. „Da steht ja alles drin, das Technische und das Historische“, sagt Herr Völter, „man will ja ein neues Schiffshebewerk bauen, gleich da hinten im Wald, nicht dass unseres hier nicht mehr seinen Dienst tut, es ist wegen der größeren Schiffe, die passen ja in unseren Trog nicht mehr rein. Aber es gibt verschiedene Schwierigkeiten mit den Bodenverhältnissen, man muss vorsorgen, dass beim Bau unseres nicht absackt usw., wir sind ja ein Baudenkmal der Kategorie I … und man muss ja für größere Schiffe mit mit mehr Tiefgang dann auch den ganzen Oder-Havel-Kanal massiv ausbauen. Im Plan ist es jedenfalls. 1905 wurde damals beschlossen nach dem preußischen Wasserstraßengesetz den jetzigen Kanal zu bauen, weil der Finowkanal nicht mehr ausgereicht hat für größere Schiffe. Man baute einen für 1.000 Tonnen Schiffe und das ist der Oder-Havel-Kanal hier, der ist praktisch mitten durch den Wald gebaut. Alles Dichtungsstrecke, also da ist eine Tondichtung drin, an den dünnsten Stellen ist sie 40 cm stark. Darüber ist eine Kiesschicht und eine mit Steinen, damit das hält. Mitte der 80-Jahre wurde die Dichtung verstärkt. Seither gilt von oben ab Eine-Richtung-Verkehr, damit sich die Schiffe auf der Strecke nicht begegnen, denn wenn sie aneinander vorbei fuhren, da mussten sie schon immer etwas mehr Feuer geben und dabei beschädigten die verstärkten Strömungsverhältnisse allmählich die Dichtung. Für 1.000 Tonnen Schiffe ist er ausgelegt, der Kanal, heute haben wir aber zwischen 1.300 bis 2.300 Tonnen. In den Trog können wir Schiffe bis 85 Metern Länge aufnehmen, bloß, die neuen Schiffe können ja abladen über zwei Meter! Und das geht nicht, denn unser Trog ist 2,50 tief und ein bisschen Wasser muss man schon drin haben. Also desto mehr Ladung er drin hat, umso tiefer taucht er ins Wasser, Tauchtiefe ist das, also Abladetiefe sagen wir.“

Auf unsere Frage, ob der Trog das schwere Gewicht der Schiffe überhaupt aushält, erklärt Herr Völter: „Also das Schiff, das reinfährt und dann im Trog schwimmt, das wiegt ja nichts sozusagen, ist gewichtlos durch die Wasserverdrängung. Das Troggewicht beträgt 4.290 Tonnen, mit Wasser, und die Gegengewichte wiegen auch 4.290 Tonnen. Damit das ausbalanciert ist, bleibt das Troggewicht immer gleich, wäre der Wasserstand im Trog z. B. 1 cm höher, dann sind das gleich 10 Tonnen Wasser mehr. Ich zeige Ihnen das nachher alles ganz genau. Wir haben ja 1984/85 eine große Reparatur durchgeführt – das war das erste Mal, dass das Hebewerk fast ein halbes Jahr still gestanden hat, sonst steht es ja nur während der Reparaturen in der Wintersperre von Dezember bis Februar – und bei dieser großen Reparatur wurden sämtliche Trog-Tragseile gewechselt, die Seilscheiben wurden abgenommen, die Seilscheibenlager überholt mit einigen Ersatzteilen, die wir noch hatten, Originalersatzteilen! Die Lager waren 50 Jahre gelaufen, die liefen absolut ruhig, nur sie hatten natürlich Verschleißerscheinungen, aber erstaunlich wenig. Es waren damals zwei Diplomanden da von der TU Magdeburg, die schrieben ihre Diplomarbeit über diese Lager. Zehn Originallager hatten wir noch in Reserve, die haben wir verbaut, und weil das nicht reichte, haben wir in Leipzig dann neue Rollen machen lassen. 1987/88 sind dann die Lager alle noch mal komplett gewechselt worden, es wurden neue hergestellt nach dem alten Muster, obwohl eigentlich die alten noch gut waren. Der Verschleiß ist an sich ja gering, wenn sie gut geschmiert sind, das Fett hieß EXTRA-LUBRIKANT 2, ein mineralisches Fett, ein Langlebe-Fett – und das war dann auch 50 Jahre drin geblieben bis 84. Wir haben auch noch Motoren zu stehen, in Ölpapier verpackt, komplette, das sind ja alles Einzelteile, keins ist ein Serienstück, darum ist die Qualität so gut. Ich habe mal ausgerechnet, damals zum 50-jährigen Bestehen, in diesem Zeitraum hatte das Werk eine Ausfallquote von 0,21 Prozent, im Hebewerk Scharnebeck beispielsweise, das 1968 in Betrieb gegangen ist, gab’s im Durchschnitt eine 30-prozentige Ausfallquote. Das gleichen sie dadurch aus, dass da zwei Hebewerke nebeneinander sind.“ Herr Völter bleibt vollkommen ernst.

Wir möchten gerne wissen, was für Schiffe und welche Ladung gewöhnlicherweise das Hebewerk passieren. „Also das hat sich jetzt ziemlich verschoben. Wir haben sonst 80 Prozent gehabt in Richtung Westen vom Osten … nicht nur zu DDR-Zeiten, das war schon vor dem Krieg so, das kam von Schlesien, schlesische Kohle damals und Kies. Kies fahren sie jetzt auch noch und auch wieder Kohle. Die Polen fahren die Kohle ins Ruhrgebiet, die scheint da knapp zu sein. Oder billiger ist es so, als wenn sie sie selbst abbauen dort. Der Kies kommt von der Oder. In Hohensaaten oder Hohenwutzen gibt es auch Kiesgruben, aber die fahren jetzt nicht mehr auf der Wasserstraße, sondern auf der Achse. Angeblich ist das billiger, aber mir will das nicht in den Kopf. In so einem Prahm, also einem Schubschiff passen 400 Tonnen, und ein Lkw fasst 20 Tonnen, das sind 20 Lkw, 20 Fahrer …??! Und was sonst noch so gefahren wird, ist Harnstoff und sowas für die Düngemittelindustrie, Chemikalien … aber ansonsten ist es ganz wenig dieser Art, auch Tanker sind selten, das geht alles über die Eisenbahn. Wenn die Benzin z. B. fahren, dann müssen sie allein geschleust werden, da darf kein weiterer rein, aus Sicherheitsgründen. Was wir viel haben, das ist Schrott, Stahl, Walzstahl. In den letzten 1 1/2 Jahren verstärkt in Richtung Osten. Polen kommen hier viele durch, und dann haben wir ja immer auch Fahrgastschiffe, die durchfahren, um das Hebewerk zu besichtigen und kleine Privatboote. Wir haben jetzt hier aber auch Fahrgastschiffe aus Basel, Riesendinger, die nach Stettin fahren, das sind richtige Hotelschiffe. Also wie gesagt, wir können alles aufnehmen bis 1.300 Tonnen. Lange waren die Regel 1.000 Tonnen, aber 1.300 Tonnen sind Europamaß, und bis zu 85 Meter Länge kriegen wir rein und bis zu 4,40, Höhe so in etwa.“

Auf die Frage, wie denn bezahlt wird, erklärt Herr Völter: „Nein, wir hier am Hebewerk nehmen kein Geld ein. Die bezahlen, wenn sie in die künstlichen Wasserstraßen einfahren. Flüsse sind generell kostenlos, nach einem Gesetz von 1836 noch, damals haben sich die kleinen deutschen Staaten geeinigt, ihre Flüsse kostenlos befahren zu lassen. Wer also von der Oder kommt, der fährt bei Hohensaaten durch die Schleuse, nennt sein Ziel – Berlin, Düsseldorf oder Rotterdam – weist seine Ladung nach. Also 1 Tonne Kies von Hohensaaten nach Berlin kostet etwa 0,51 Euro, drauf haben sie gewöhnlicherweise 1.000 Tonnen. Wenn sie Kupfer fahren, dann ist das teurer pro Tonne. Das Geld kommt dann in einen gemeinsamen Ländertopf. Sportboote z. B. müssen an den Schleusen nicht zahlen, weil sie ja im deutschen Motorjachtverband organisiert sind in der Regel, und der führt entsprechende Gelder ans Verkehrsministerium ab.“ Herr Völter schaut auf seine Uhr: „So, wenn Sie jetzt möchten, können wir essen gehen oben in der Polizeischule.“

Die Polizeischule liegt etwas oberhalb des Hebewerkes im Wald, war das Gebäude der Bauleitung fürs Werk und sieht ansonsten mit seinen gepflegten Anlagen und einem kleinen Springbrunnen wie ein DDR-Erholungsheim aus. Auch der halbdunkle Speisesaal mit den Wachstuchdecken und kleinen Väschen wirkt unverändert. Aus einer Durchreiche werden von stämmigem Küchenpersonal 3 Portionen Spinat mit Kartoffeln und Setzei herausgereicht. Das Brot zur Soljanka ist gratis. Wir sind die einzigen Gäste.

Wenig später klettern wir hinter Herrn Völter über die Absperrung ins Hebewerk hinein und erklimmen den Trog. Im geschlossenen Zustand sieht er aus wie ein mit Kanalwasser gefülltes Becken, 85 m lang, 12 m breit, mit Kai und Pollern zum Vertäuen der Schiffe während der Aufzugsfahrt. Die Treidlerin wird uns vorgestellt, eine rüstige ältere Frau mit Dauerwelle und großer Brille. Sie ist seit 20 Jahren auf diesem Posten und erledigt mit viel Erfahrung das Festmachen der Schiffe am Trog und das maschinelle Herausziehen der antriebslosen Prahme in den Vorhafen. Auch der Trogmeister wird uns vorgestellt, ein hagerer älterer Mann mit Baseballmütze und Jeansanzug, quirlig und mit sarkastischem Humor dirigiert er alle maschinellen Vorgänge, grüßt die altbekannten Schiffer, plaudert mit den Fahrgastkapitänen und eilt schon wieder zu seinen Knöpfen. Eingefahren ist das Fahrgastschiff „Münchhausen“ nebst drei kleineren Motorjachten. Die Touristen sitzen auf dem Oberdeck, im Wasser schwimmen Gras und Wurzeln. Per Knopfdruck werden die beiden Hubtore von Trog und Haltung geschlossen und der gummierte Dichtungsrahmen, der eine wasserdichte Verbindung zwischen Trog und Kanal herstellt, wird gelöst, der Trog entriegelt. Dann wird der Umformer angelassen und hochgefahren bis die notwendige Gleichstromspannung erreicht ist.

Es ertönen zwei Hornsignale, und der Trog, der nun frei in den Seilen hängt, setzt sich sacht in Bewegung nach oben. Wir gleiten empor am verstrebten, eng genieteten Stahlgerüst. 3,7 Millionen Nieten sind hier verarbeitet worden. Auf halben Wege schweben 192 Gegengewichte aus Beton langsam vorbei nach unten. Der Trog hängt an 256 starken Drahtseilen, die in 8er-Gruppen zusammengefasst sind, 6 tragen jeweils ein Gegengewicht, die übrigen zwei einen Rahmen der zur Führung dient und beim eventuellen Reißen der Seile das Gegengewicht aufnimmt, erklärt uns Herr Völter. Und die vier Gelenkketten, die aussehen wie riesige Fahrradketten, die drehen sich in Gegenrichtung um das Gewicht der ablaufenden Seile zu kompensieren, erfahren wir. Nach fünfminütiger Fahrt sind wir oben angekommen, 36 Meter höher.

Wir klettern hinaus ins westliche Maschinenhaus des Troges, es ähnelt von außen ein wenig dem Steuerhaus eines alten Kutters, von innen mehr einem Motorenraum mit angeschlossener kleiner Werkstatt samt Drehbank. Hier befinden sich zwei der vier Antriebsmaschinen, sie arbeiten vollkommen synchron. Man sieht Welle und Zahnrad, alles glänzt vor Fett. An der Wand hängen Schraubenschlüssel von der Länge eines kleinen Fingers bis hin zu Elefantenknochengröße, die, wie mir scheint, kein Mensch mehr heben kann. Herr Völter deutet seitlich hinaus und erklärt uns den überaus klug ausgetüftelten Sicherheitsmechanismus des Notfallsystems. Dessen Kernelemente sind die Mutterbackensäulen, große geschlitzte Gewindesäulen, die am Hebewerksgerüst befestigt sind. An diesen Mutterbackensäulen fährt der Trog quasi auf und ab. Auch so genannte Drehriegel oder Schraubenspindeln, die am Trog gelagert sind und von den Motoren mit angetrieben werden, laufen an der geschlitzten Mutterbackensäule auf und ab. Im Normallfall berühren sie sich nicht und haben einen beiderseitigen Spielraum von 30 mm. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass Seile reißen oder etwas anderes den Trog aus dem Gleichgewicht bringt, dann geben die Federn der Antriebsrietzel nach, schlagen aus. Dadurch wird der Spielraum zwischen Drehriegel und Mutterbackensäule geschlossen, sie lagern sich an, und der Trog wird auf diese Weise festgehalten, sie können ja GEGEN die Mutter nicht drehen, und es werden auch die laufenden Motoren automatisch abgestellt. Ein Absturz des Troges ist nicht möglich, versichert uns Herr Völter.

Nachdem der Trog verriegelt und gedichtet wurde bei der Ankunft oben, fahren die beiden Tore tropfend hoch. Die „Münchhausen“ fährt mit lachenden Passagieren davon über die lange Kanalbrücke, vorbei an einem auf die Fahrt nach unten wartenden Schubverband. Es sind polnische Schiffe auf der Rückreise, leer, bis auf Reste von Kohlenstaub. Unten angekommen, beginnt die Ausfahrt des 1. Prahms am Treidelseil. Zu seinem Pech und unserem Glück kracht der polnische Leichtmatrose in zügiger Fahrt mit seinem eisernen Lastkahn gegen die Spundwand des Vorhafens. Es ist aber nichts weiter geschehen. Er hat versäumt, ein Prellholz zwischen Schiff und Spundwand zu schieben, erklärt uns Herr Völter ungerührt und fährt mit uns im Betriebsfahrstuhl hinauf ins Dachgeschoss. Hier drehen sich die Seilscheiben, 3,50 m große, grün gestrichene zweirillige Stahlräder, 128 Stück, 64 auf jeder Seite, über die sich je zwei Seile ziehen: die nördlichen transportieren den Trog, die südlichen sämtliche Gegengewichte aus Beton. In einer 90 Meter langen Fluchtlinie drehen sie sich hintereinander fast gleichmäßig. Das Licht ist gedämpft, die Glasfensterchen sind verhangen von zahllosen Kreuzspinnennetzen, in denen ansehnliche Schmeißfliegen gefangen werden. Hinter Herrn Völter erklimmen wir zuletzt über eine schmale Leiter das Dach, stehen in 60 Meter Höhe frei auf dem neuen gefalzten Blechdach. Es ist eigentlich nur ein begehbarer Saum, auf dem ein kleiner Hebekran ringsherum fahren kann, für Reparaturarbeiten und für die Malerkolonne, die hier früher alles neu gestrichen hat, um, wenn sie am Ende ankam, sogleich am Anfang wieder neu zu beginnen. Nach sieben Jahren waren sie einmal ums Gebäude herum.

Herr Völter beklagt, dass nun seit drei Jahren nicht gestrichen wurde. Früher nahm man eine Aluminium-Eisen-Glimmer-Farbe, nach der Wende wurde mit Epoxyt-Harzfarbe gestrichen, die wird aber nicht mehr ausgewaschen, sondern platzt ab, bildet Risse und lässt Rost unterkriechen. Das Geld für das Streichen sei im Prinzip da, erklärt Herr Völter, der Auftrag werde aber nicht erteilt aus diesem und jenem Grund, zuletzt deshalb, weil die zuständige Frau Schulz ein Kind bekam und ins Babyjahr ging. Ein leichter Wind geht, in der Ferne verschwimmen die Felder, Wälder und Wiesen zu einem blaugrünen Streifen, unter uns stürzen sich die Schwalbeneltern aus ihren Nestern heraus schreiend in die Tiefe, auf der Suche nach Nahrung für die klagenden Jungen. Glitzernd ziehen sich die Wasserstraßen dahin, träge entfernt sich ein Schubschiffverband nach Osten, wahrscheinlich der ramponierende Pole. „Der war in der DDR gebaut, der Prahm“, sagt Herr Völter, „32,50 m lang ein Prahm, zwei sind 65 m und dazu das Schubschiff, das war eine Einheit für das Hebewerk bis 85 m geht ja rein. Na und was ein bisschen länger ist, geht schräg rein.“ Unten auf dem Parkplatz mit den Imbissbuden und Andenkenständen bewegen sich ameisengroß die Besucher. Mit einem Aufzug können sie bis zur Brücke fahren und dort oben auf einem umlaufenden Balkon das gesamte Hebewerk auf 40 Metern Höhe umrunden.

Wir verlassen die allmählich Schwindel erregende Höhe und fahren nach Eberswalde. An der dortigen Schleuse bewohnt Herr Völter, zusammen mit seiner Frau, das obere Stockwerk des alten Schleusenhauses mit Blick auf die Geschehnisse in der Wasserstraße. Das Haus ist aus gelblichem Klinker, die ehemalige Trabi-Garage am Stall hat er umgebaut für den neuen Mittelklassewagen. Hinter dem Stall erstrecken sich zwei gepflegte Gärtchen mit Blumen, Gemüse und Obstbäumen, sie gehören zu den beiden Parteien im Haus. Im Hof liegt ein umgedrehter Einbaum, am Vortag war Kanalfest in Eberswalde. Herr Völter bittet uns hinauf in die Wohnung. Das Wohnzimmer ist groß und ohne großen Pomp eingerichtet. Eine Couch, graubeige Sessel, ein rundes Tischchen mit Glasplatte, zwei Schränke aus DDR-Zeiten, schlicht und braun. Am Fenster steht ein kleiner Esstisch mit fliederfarbener Tischdecke und zwei Stühlen. Zwischen den beiden Fenstern tickt eine alte Wanduhr mit Pendel die wohltönend schlägt. Über der Couch hängt ein Gemälde, es zeigt das Hebewerk vor einem glutvollen Sonnenuntergang. Einzig ausgesprochen westlichen Schick hat die Zimmerdecke, weiße Styroporschmuckplatten werden von einer wagenradförmigen Deckenlampe beschienen. Die Schuhe haben wir unaufgefordert ausgezogen, um den Teppichboden zu schonen. Es gibt einen starken Kaffee und Gebäck, Frau Völter ist wesentlich lebhafter als ihr Gatte. Sie war von Beruf Krippenerzieherin, zuständig für die Kleinen, von neun Wochen bis drei Jahren. Sie erzählt vom Sohn, der Arbeit hat als Nachrichtentechniker bei der Bahn, und von der Tochter, die technische Zeichnerin ist und momentan arbeitslos. „Ja“, sagt Herr Völter, „es ist schlimm hier, in der ganzen Gegend ist alles dicht, Arbeitslosigkeit haben wir offiziell 18 Prozent, wo das noch hinführen soll …“ Zum Abschied rät er uns sehr, in Berlin im Museum für Verkehr und Technik den Herrn Rudolph zu besuchen, einen Rentner, der dort ehrenamtlich ein Modell des Schiffshebewerks baut.

Wir folgen diesem Rat einige Wochen später, treffen aber Herrn Rudolph nicht an, dafür aber seinen Kompagnon Wolfgang Lamprecht. Er ist Angestellter des Museums, zuständig für die Abteilung Wasserbau/Schifffahrt, und baut seit Jahren zusammen mit Herrn Rudolph an dem Modell des Hebewerkes. Er ist ein älterer mittelgroßer Mann, energisch und berlinerisch redegewandt. Liebevoll, geradezu zärtlich zeigt er auf das maßstabsgerechte Funktionsmodell aus genietetem Messingblech, das bereits deutlich dem Niederfinower Hebewerk ähnelt, aber noch nicht fertig ist. Es steht aufgebockt in einer kleinen Werkstatt. Die Abteilung ringsum ist geschlossen und im Umbau.

Ist Ihnen bekannt, weshalb wir das Modell überhaupt bauen? So ein Modell existiere schon einmal, es ist damals 1948 von der sowjetischen Militäradministration beschlagnahmt und mitgenommen worden. Auf dem Wege nach Leningrad ist es dann verschwunden, da verlieren sich seine Spuren. Hat Ihnen Herr Völter übrigens erzählt, weshalb das Original nie bombardiert wurde im Krieg? Nein? Bei Fliegeralarm stieg immer ein Flugzeug auf und hat die ganze Gegend vernebelt, der eigentliche Grund war aber das große Kriegsgefangenenlager, das man im tiefer gelegenen Teil, im Oderbruch eingerichtet hatte. Dort wurden alliierte Flieger gefangengehalten, die über dem Kontinent abgeschossen worden waren. Alles klar??!! Extra dahin platziert! Wäre bombardiert worden, dann hätten diese ungeheuren Wassermassen das alles weggeschwemmt und mit sich gerissen. In Gefahr war das Hebewerk erst in den letzten Kriegstagen 45, als die Russen schon über die Oder kamen. Da wurden unten die ganzen Hohlräume und Kammern mit Dynamit gefüllt, die Zündschnüre lagen bereit, die Nazis wollten es selbst in die Luft sprengen, um es den Russen nicht zu überlassen. Leute vom deutschen Widerstand haben buchstäblich im letzten Moment die Zündschnüre entfernt und die Kabel gekappt … dann war da noch die andere Geschichte mit dem damaligen technischen Direktor vom Hebewerk.

Der war zwar in der NSDAP – auf Grund seiner Position musste er das sein –, aber er war kein Nazi. Er war, wie man erfuhr, auch mit dem Widerstand verbunden, und da wollte ihn die Gestapo dann holen. Er hat das rechtzeitig erfahren und ist nicht geflohen. Der hat sich in seinem Hebewerk unten in die Trogkammer gestellt, an einer exponierten Stelle, und hat gewartet, dass der Trog runterkommt, der ihn dann zerquetscht hat. Die Russen, die hätten ihn ja auch gleich festgenommen. Da ging in den Kriegsjahren ja allerhand durch, Munitionstransporte, Rohstoffe, Kohle, Weizen, alles Mögliche aus den Ostgebieten und in die Ostgebiete, pausenlos. Damals war ja auch der Reichsadler mit dem Hakenkreuz hier vorne drauf“, er deutet zum Modell, „riesengroß! Na ja, als dann die Russen das Werk besetzten, haben sie alles weiträumig abgesperrt, alles gesichert, und im Kanal haben sie sofort große Netze aus Stahl gespannt, gegen die Treibminen … So hat das Hebewerk alles gut überstanden, nur die Wende fast nicht. Damals wurde ja alles umgestellt, so auch die Antriebstechnik der Tore auf eine hydraulische Technik. Modern, ja! Man hat also alles aus- und neu eingebaut … doch dann, einige Zeit später, wurde KLAMMHEIMLICH die Hydraulik wieder rausgeschmissen und die alte Mechanik wieder eingebaut.“