„Ich lebe mit meinen Figuren“

Für seinen Spielfilm „Hundstage“ hat Ulrich Seidl sich in die Welt der Einfamilienhäuser begeben. Gegen den Vorwurf, seine Figuren zu denunzieren, wehrt er sich: „Es geht darum zu zeigen, dass es in menschlichen Beziehungen an Würde fehlt“

Interview CRISTINA NORD

taz: Herr Seidl, Sie haben „Hundstage“ mit professionellen Schauspielern und mit Laien gedreht. Wie haben Sie die Darsteller gefunden?

Ulrich Seidl: Das war ein langer Prozess. Wir haben über ein Jahr lang gecastet. Ich habe nicht von vornherein gesagt, diese Rolle müsste mit einem Schauspieler besetzt werden, jene mit einem Nichtschauspieler. Wir haben vielmehr in beide Richtungen gesucht und verschiedene Methoden angewandt, etwa Inserate geschaltet oder Straßencastings gemacht.

Um ein Beispiel zu nennen: Herrn Hruby, den Alarmanlagenvetreter, habe ich über das Telefonbuch gesucht. Ich habe die Firmen kontaktiert, die solche Anlagen vertreten, und dabei bin ich auf diesen Herrn gestoßen, auf einen Laien mit einer großen Begabung.

War er gleich bereit?

Er war nicht abgeneigt. Wenn mich Leute interessieren, treffe ich sie öfter. Erst nach mehreren Treffen und ersten Proben mit der Kamera kann ich mich entscheiden.

Waren Sie Alfred Mrva, dem Darsteller des Herrn Hruby, ein Begriff? Kannte er Ihre Filme?

Nein. Er hat nichts gekannt. Während der Vorbereitungszeit ist „Models“ in die Kinos gekommen, und er hat ihn gesehen. Gefallen hat ihm der Film nicht, er war ihm zu langweilig.

Was sagt er über „Hundstage“?

Er ist begeistert. Er würde sofort beim nächsten Film mitmachen, er hat richtig Feuer gefangen. Dabei war es am Anfang schwierig, weil er als Geschäftsmann daran gewöhnt ist, dass die Dinge, die er sich vorgenommen hat, schnell passieren. Beim Film ist das natürlich anders. Man muss Geduld haben, die Dinge werden andauernd wiederholt, wir mussten immer auf das richtige Wetter warten, weil wir nur bei wolkenlosem Himmel drehten. Das hat ihn am Anfang sehr unruhig gemacht. Aber je mehr er gespielt hat, desto größer wurde seine Begeisterung.

Gilt das für die anderen Darsteller auch?

Alle Darsteller waren mit Enthusiasmus bei der Sache. Für die professionellen Schauspieler war es etwas Besonderes, insofern sie improvisieren konnten, eine Gelegenheit, die sie sonst nahezu nie haben. Und dass sie mit Laien spielen mussten, war eine Herausforderung. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Victor Hennemann, der in der Episode mit der Lehrerin …

Das ist Wickerl, der Zuhältertyp?

Ja. Der ist im echten Leben auch so ein Typ. Der hat mir sein Zuhälterehrenwort gegeben, dass er bei diesem Film mitspielt und kein Geld dafür nimmt. Wir haben beim Drehen Probleme gehabt, weil er es ab dem Moment, in dem er die Opferrolle zu spielen hat, in dem er gedemütigt wird, nicht mehr lustig fand. Er sieht sich dann selbst und fragt sich: Wer ist er, Victor Hennemann, und welchen Ruf hat er in der Öffentlichkeit?

Wenn einiges übernommen wird, anderes dem Selbstentwurf des Darstellers widerspricht, wie viel kommt dann von Ihnen, wie viel vom Darsteller?

Zunächst einmal gibt es das Drehbuch, wobei die meisten Charaktere auf reale Menschen zurückgehen. Es gibt Ausnahmen, der Alarmanlagenvertreter ist eine reine Kunstfigur, aber die Lehrerin geht auf eine Frau zurück, die ich kannte. Im besten Falle – das gilt für die Schauspieler wie für die Nichtschauspieler – sehe ich in der Vorbereitungszeit, wer sie sind und was sie können, und lasse das einfließen. So treffen sich beide Seiten: Wie soll die Rolle sein, und was kann der Darsteller am besten. Wickerl zum Beispiel kann man nicht besser ausstatten, als er ausschaut. Wichtig ist, dass, wenn man mit Laien arbeitet, man eine solche Figur nicht mit jemandem besetzen kann, der keine Gewalterfahrung hat. Der könnte das nicht spielen. Aber es hat niemand in seinem eigenen Umfeld gespielt. Alle Motive und alle Partner sind für den Film ausgesucht, niemand spielt in seiner Privatsphäre.

Wenn es lange gedauert hat, die Darsteller zu casten, so war es sicherlich nicht einfach, die Schauplätze zu finden.

Das ist richtig. Ich wollte Originalschauplätze haben. Die gibt es zwar zuhauf. Die Welt, die im Film gezeigt wird, diese anonymen Einfamilienhaus-Siedlungen die existieren ja nicht nur im Süden von Wien, sondern auch in Linz, in Düsseldorf, in der gesamten westlichen Welt. Aber es war schwierig, in die Häuser hineinzukommen. Wenn man in einer solchen Siedlung aus dem Auto steigt, Häuser anschaut und zu fotografieren beginnt, dann ist augenblicklich die Polizei da. Es gibt sofort Konflikte. Und wenn man das Haus von außen gesehen hat, braucht man einen Zugang, damit man es von innen sehen kann. Die Bewohner müssen bereit sein, das Haus für die Dauer der Dreharbeiten zu verlassen, es für drei Wochen zu räumen und es adoptieren zu lassen. Vielfach wurden die Gärten adoptiert, zum Beispiel der geordnete Garten von dem alten Mann, wo alles aussieht wie mit dem Lineal gezogen, das wurde ja von der Ausstattung eingerichtet. Dem mussten die Bewohner zustimmen.

So wie die Figuren oft nackt zu sehen sind, haben auch die Häuser etwas Nacktes, als hätte man sie ausgezogen.

Das wollte ich so haben. Es gibt Ortschaften, wo im Hochsommer alle Rollos heruntergelassen sind. Die Häuser schauen aus wie verlassen. Und die Leute sitzen im Keller, das habe ich bei diesem Film erfahren.

„Hundstage“ ist in einem vorstädtischen Milieu angesiedelt. Haben Sie niemals Angst, Sie könnten dieses Milieu, Sie könnten Ihre Figuren denunzieren?

Mit diesem Vorwurf habe ich zu tun, seit ich Filme mache. „Hundstage“ ist ein Spielfilm. Sobald man nun sagt, dass jemand vorgeführt wird, vergisst man, dass er als Schauspieler für die Rolle besetzt wurde.

Trotzdem könnte man es sich leicht machen und sich abgrenzen, indem man sagt: „Das sind Menschen, mit denen ich nichts zu tun habe. Ich lebe ein ganz anderes, erfüllteres Leben.“

Davor würde ich warnen. Wer das sagt, hat sich nicht auf den Film eingelassen, vielleicht, weil er Angst davor hat, zu erkennen, dass die Figuren sehr wohl mit ihm zu tun haben. Denn ganz egal, aus welcher Schicht jemand kommt: dass man einsam ist, dass man vergeblich versucht, aus seinem Gefängnis herauszukommen, dass man sich danach sehnt, geliebt zu werden, und selbst nicht lieben kann: Das gibt es doch bei allen Menschen. Sich darüber zu stellen, halte ich für sehr gefährlich.

Es ist markant, wann und wie gesungen wird. In der Szene, in der Wickerl gedemütigt wird, kommt kontrapunktisch die Bundeshymne zum Einsatz.

Da steckt keine tiefere Absicht dahinter. Diese Episode zu drehen war sehr schwierig. Wir haben uns 14 Tage eingeschlossen in der Wohnung. Das Schwierigste war, die richtige Stimmung zu erzeugen. Irgendwann war plötzlich die Idee da, die Bundeshymne zu verwenden.

In anderen Situationen wird über Musik und Gesang etwas hergestellt, was rar ist in „Hundstage“: Nähe und Gemeinsamkeit. Etwa dann, wenn die Anhalterin, Anna, im Auto zu singen beginnt.

Mit der Adeligen, ja. Das sind die zärtlichen Momente, die der Film hat. Auch bei dem Striptease, den die Haushälterin für den alten Mann macht. Es wird zwar nicht gesungen, aber es ist eine musikalische Szene.

Ist die Zärtlichkeit das, was den Vorwurf, Sie führten die Figuren vor, außer Kraft setzt?

Schauen Sie, ich verstehe den Vorwurf gerade für „Hundstage“ überhaupt nicht. Was soll hier denunziert werden? Es wird menschliches Leben gezeigt in einer Wahrhaftigkeit, die mitunter verstörend ist. Ich verstehe, dass viele Menschen Probleme haben, sich das anzuschauen. Man blickt hinter Türen, in eine Intimität hinein, und das ist manchmal nicht angenehm, aber mit Denunzieren hat es nichts zu tun.

Wegen der Zärtlichkeit?

Ja. Der Film würde nicht funktionieren, wenn er ein kalter Film wäre, wenn die Figuren nur von außen betrachtet würden. Es ist die besondere Qualität, dass einem die Personen nahe kommen, auch wenn es oft sehr arg ist.

Ist das der Kern Ihrer Arbeit?

Ich glaube, dass ich mit meinen Figuren lebe. Es würde sich für mich überhaupt nicht rentieren, Menschen herzunehmen und sie auszustellen. Denn bei allem Schrecklichen, bei allem Verstörenden, das der Film hat, geht es darum, zu zeigen, dass es an Würde fehlt in menschlichen Beziehungen. Wenn mir Leute sagen: „Das ist so fürchterlich negativ“, dann sage ich: „Weil ich noch etwas anderes zeigen will, weil ich eine Vision habe von einem menschlichen Leben.“

Die Art und Weise, wie die Anhalterin spricht, wie sie Listen aufstellt, populäres Liedgut verwendet und Werbesprache wiederholt, hat mich an den bis in den Klamauk reichenden Umgang mit Sprachmaterial und -schrott erinnert, den Elfriede Jelinek pflegt. Ist deren Arbeit mit Sprache für Sie relevant?

Überhaupt nicht. Mit Elfriede Jelinek habe ich gar nichts zu tun, ich fühle keine Affinität und keine Verwandschaft. Wenn es jemanden gibt in Österreich, dann wäre das Thomas Bernhard. Zu der Rolle der Anhalterin im Konkreten: Die Top Tens standen schon im Drehbuch, die Werbejingles auch. Der Beitrag der Schauspielerin Marie Hofstätter war, dass sie sich lange auf die Rolle vorbereitet hat, unter anderem, indem sie sich unter Behinderten umgeschaut hat. Den Sprachduktus, das Nervende, die Wiederholung und das Direkte hat sie sich selbst antrainiert. Sie ist als Anna, in der Rolle, zum Set gekommen, weil es für sie so am leichtesten war.

Ist sie den ganzen Tag über nicht aus der Rolle herausgetreten? Nicht einmal in den Pausen?

Ja, und das hat oft zu Verwirrungen geführt.

Sie filmen oft aus einer leichten Aufsicht heraus, so dass die Figuren an den unteren Bildrand rücken.

Das ist ein Element meiner Filmsprache. In „Hundstage“ spielt es keine so große Rolle, in meinen Fernsehfilmen wird es in extremer Form eingesetzt. Von den Leuten ist nur der Kopf zu sehen, und ein Dreiviertel des Bildes ist Raum. Wieso ich das mache? Ich weiß es nicht. Eine banale Antwort wäre: Der Raum, in dem Menschen leben, mit dem sie sich umgeben, sagt sehr viel aus. Für mich ist es eine Einheit: der Mensch im großen Raum. Was bei „Hundstage“ eher prägend ist, sind die Tableaus, in denen das Leben, die Bewegung zum Stillstand kommen.

Sehr beeindruckend ist in dieser Hinsicht die erste Einstellung im Swingerclub.

Ja, dieses Orgienbild. Das ist ein bisschen wie Hieronymus Bosch.

„Hundstage“, Regie: Ulrich Seidl, Österreich 2001, 121 Minuten. Mit Maria Hofstätter, Alfred Mrva, Victor Hennemann, Georg Friedrich u. a.