Die Frau in der Wand

Es geschehen Zeichen und Wunder: In zwei Wochen, sieben Tage vor ihrem hundertsten Geburtstag, erscheint ein neuer Film von Leni Riefenstahl. Erlebt des „Führers“ einstige Propagandistin nun doch noch ihre Anerkennung?

von REINHARD KRAUSE

Gisela Uhlen ächzt und stöhnt. „Ich hätte nicht gedacht – ähh! –, dass ich hier noch so flott raufkomme.“ Gisela Uhlen verlangt sich geradezu Übermenschliches ab. „Meine Güte, es ist eine Ewigkeit her, dass ich das letzte Mal in einer Wand gehangen habe. Ähh … Ahh. Aber das Gefühl, das Gefühl ist noch da! Die Finger und Zehen erinnern sich noch. Sie haben nicht vergessen, wie es sich anfühlt, in den Stein zu greifen – ER-Material! Roter Filter! –, was es heißt, sich festzukrallen, Zentimeter um Zentimeter, den ganzen Körper in den nackten Fels gepresst, zwischen Erde und Himmel sich aufwärts zu ziehen.“

Gisela Uhlen ist Riefenstahl, Leni Riefenstahl. Eine Besessene. Sie wird es allen noch einmal zeigen. Obwohl schon neunzig, klettert sie noch einmal eine Wand hoch – nicht am Piz Palü, sondern in der Avenue Montaigne, Paris. „Unverschämtheit, einen in meinem Alter – ähh! – in meinem Alter über den Balkon klettern zu lassen. Aber dieses Conciergeweib da unten wird sich noch wundern! ‚Madamme, pas de Visitör!‘ Werden wir ja sehen, ob mich Madame nicht empfängt. Mit offenen Armen wird sie mich empfangen, wenn sie erst einmal gehört hat, was ich ihr zu sagen habe. Ähh.“ Der Balkon ist greifbar nah.

In ihrem 1998 von Radio Bremen produzierten und soeben auf CD erschienenen Hörspiel „Marleni“ hat Thea Dorn alle Zutaten aus fast hundert Jahren Leni Riefenstahl zu einer fulminanten Farce kondensiert: ihr Leben mit dem Kainsmahl der Nazipropagandistin, ihren frenetischer Einsatz für das Kunstschöne, ihren unbeugsamen, geradezu körperlichen Willen, eine künstlerische Vision umzusetzen. Die Pointe steht gleich am Anfang des Hörspiels: Leni Riefenstahl will noch einmal einen Film drehen, ein spätes, seit fünfzig Jahren aufgeschobenes Meisterwerk: die „Penthesilea“ von Heinrich von Kleist – mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle! Doch die Dietrich, noch älter als Riefenstahl und längst photographed to death, hat bekanntlich seit Jahren die Wohnung nicht mehr verlassen.

Aber eine Riefenstahl kennt keine unüberwindbaren Hürden, nur Herausforderungen. Sie gelangt nicht ins Haus? Dann erklimmt sie eben die Fassade, vom Wunsch getrieben, mit diesem einen, letzten Film all die Kritiker zum Verstummen zu bringen, die ihr das Filmen für den NS-Staat nie verziehen haben. Leni Riefenstahl, steinalt und geradezu diabolisch zäh beim Freeclimbing – welch ein Bild! Leni auf dem Weg zur Erlösung, die Riefenstahl auf dem Holzweg, wieder einmal.

Leni Riefenstahl ist der Deutschen bewährte und bestgehasste Hexe, der Dämon der Filmkunst, deren Name noch immer bei vielen geradezu reflexhaft die heftigste Ablehnung hervorruft. In einem Spiegel-Interview wurde die Filmemacherin vor fünf Jahren gefragt, wie sie den Jahrtausendwechsel verbringen wolle: „Auf einem Berg? Oder unter Wasser?“ Eine Verfemte wie sie, so die Unterstellung, werde wohl fern der Menschen feiern wollen, in der geliebten Natur, die keine Anwürfe für sie parat hält. Doch die Riefenstahl antwortete: „Na, am liebsten säße ich dann wohl in einem Kino und erlebte, dass die Leute einen der Filme, an denen ich noch arbeite, sehen und davon beeindruckt sind.“ Typisch Riefenstahl!

Dieser Wunsch, auf dessen Realisierung vor fünf Jahren sicher niemand gewettet hätte, steht nunmehr unmittelbar vor der Verwirklichung. Eine Woche vor dem hundertsten Geburtstag der Regisseurin sendet Arte am 15. August „Impressionen unter Wasser“, den ersten neuen Riefenstahl-Film seit fast fünfzig Jahren. Arte kündigt den 45-Minuten-Film an als ein „Epos, das Fauna und Flora so erscheinen lässt, als hätten sich alle maßgeblichen französischen Impressionisten zu einem gemeinsamen Gesamtkunstwerk zusammengefunden“. Ein neuer Eintrag ins Guinnessbuch dürfte Leni Riefenstahl damit sicher sein. Nach „Tiefland“, dem Film mit der längsten Produktionszeit (zwanzig Jahre von der Planung bis zur Uraufführung 1954), gilt Riefenstahl nun auch noch als Regisseurin mit der längsten aktiven Karriere.

Leni Riefenstahl erfüllt sich also einen alten Traum, und „der Markt“ exerziert die zu Centenarien gängigen Usancen – nur mit dem Unterschied, dass diese Hundertjährige den ganzen Rummel um Leben und Werk noch miterlebt und auskosten kann: Der Kölner Taschen Verlag, der im Programm seines Sublabels Evergreen bereits die Memoiren der Regisseurin führt, veröffentlicht zum Hundertsten einen Riefenstahl-Luxusband „Afrika“ – zum sagenhaften Preis von 1.250 Euro. Wer es noch exklusiver möchte, kann bei den Taschens limitierte Originalabzüge von „Nuba“-Fotos ordern. Stückpreis: zwanzigtausend Euro – eine Summe, für die man schon einen kleinen Breker bekommen dürfte. Wenn man denn so etwas mag.

Auch Jodie Fosters Verfilmung der Riefenstahl’schen Lebensgeschichte – ein Projekt, dem man ebenfalls nur Kolportagewert beimessen wollte – soll nunmehr im kommenden Frühjahr im Studio Babelsberg starten. Freilich ohne Lizenzierung durch die Hauptfigur. Bei einem Produktionsvertrag amerikanischen Rechts, so Riefenstahl, hätte sie keinerlei inhaltliches Mitspracherecht bei der Verfilmung ihrer Memoiren. Undenkbar. Und schließlich und endlich ist soeben die dritte kritische Riefenstahl-Biografie erschienen.

Das jahrzehntelang wie betoniert wirkende, an Exerzitien erinnernde Ritual von Faschismusvorwurf auf Kritikerseite und systematisch verweigerter Einsicht in alles, was mit historischer Schuld zu tun hat, auf Seiten der Künstlerin, es beginnt zu bröckeln. Seit der ersten großen Riefenstahl-Ausstellung im Potsdamer Filmmuseum vor drei Jahren ist der Ton im Umgang mit Deutschlands berüchtigter Regisseurin deutlich moderater geworden. Die fast Hundertjährige erfährt seither Ehrung um Ehrung – vor allem im Ausland.

Aber auch hierzulande wächst die Bereitschaft, sie nunmehr doch als Ikone des Avantgardekinos zu verehren. Hilmar Hoffmann, damals noch Präsident des Goethe Instituts, eröffnete das Riefenstahl-Jahr 2002 mit einem langen, friedlichen Interview in der Welt. Die Augustausgabe der deutschen Vogue (Titelthema: „ICH! Mode, die mich zur Göttin macht“) trumpft auf mit vierzehn Seiten Riefenstahl-Fotos und acht Seiten Gespräch. Die Kritik, scheint es, hat vor der schieren Langlebigkeit der Leni Riefenstahl die Waffen gestreckt.

Dabei hat sich am moralischen Befund nichts geändert. Nein, Riefenstahl ist nie „in der Partei gewesen“, war nicht Hitlers Geliebte, hat keine an niederste Instinkte appellierenden Propagandafilme gedreht wie Veit Harlan mit „Jud Süß“ und „Kolberg“, und selbst der Einsatz von internierten Sinti und Roma für ihren Spielfilm „Tiefland“ fällt nicht in den Bereich justiziabler Tatbestände. Und doch wurde sie zur Zumutung für die Nachkriegsgesellschaft und blieb es auch, indem sie ihre lang anhaltende Begeisterung für den „Führer“ ebenso rundum eingestand, wie sie jede Frage nach persönlicher Schuld und Verantwortung scharf zurückwies. Die Rolle der Vorzeigebüßerin hat sie abgelehnt, und das Publikum sah die stille Übereinkunft verletzt, mit der braunen Vergangenheit so dezent wie möglich umzugehen.

Zur allgemeinen Verblüffung jedoch und nach den Gesetzen von nachlassendem Druck und damit sich minderndem Gegendruck sendet die für ihre Unbelehrbarkeit Vielgescholtene mittlerweile homöopathische Dosen von etwas aus, das man als Hauch von Einsicht deuten könnte. Etwa wenn sie im Vogue-Interview ausruft: „Ich wäre überhaupt sehr dankbar, wenn ihr Hitler nach Möglichkeit weglasst! Der vermiest mir ja das ganze schöne Interview!“ Oder, expliziter, wenn sie der Welt gegenüber äußert: „Ich habe im Dritten Reich gelebt mit all den grauenhaften Verbrechen. Wir haben ein fürchterliches Erbe hinterlassen. Ich habe etwas abzutragen. Da bleibt Schuld, so kann man es nennen.“ Wird damit nun doch der Weg frei für die Aussöhnung?

Eine komplette Reinwaschung allerdings hat bislang nur eine gewagt: Alice Schwarzer. In einem überwältigend reflektionsarmen Artikel deklarierte die Emma-Herausgeberin den berühmt-berüchtigten Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ schlankweg als „göttlich“ und Riefenstahl zu einem unrechtmäßig verfemten Genie des Films, zu einer verfolgten Frau in einer Männerwelt, kurz: zu einem Opfer.

Bei aller Naivität der Schwarzer’schen Verteidigungsschrift – sie berührt ein zentrales Missverständnis der gesamten Riefenstahl-Debatte, indem sie ihren Beitrag zu der rhetorisch gemeinten Frage bündelt: „Propagandistin oder Künstlerin?“ Als ob das eine das jeweils andere ausschlösse! Weit produktiver ist die Frage: „Dokumentarfilm oder Kunst?“ Riefenstahl hat beides für sich reklamiert, je nach Argumentationsvorteil. Sie habe ja – bei ihren Parteitagsfilmen, bei den Olympiafilmen – nie etwas hinzugefügt. Alles, was im Film zu sehen sei, habe genau so stattgefunden. (Was so nicht ganz richtig ist, immerhin wurden einige Parteitagsreden und diverse Wettkampfaufnahmen nachgedreht.) Insofern wäre sie Dokumentarfilmerin. Ihre Aufgabe, betont sie ein ums andere Mal, sei es lediglich gewesen, diese Geschehnisse möglichst schön zu fotografieren. Insofern ist sie Künstlerin.

Der grundlegende Unterschied: Für eine Dokumentation gilt das Gebot möglichst weitreichender Repräsentanz, für die Kunst die Lizenz zum frei gewählten Ausschnitt. Riefenstahl entschied sich tatsächlich für die (Auftrags-)Kunst. Allein durch die Wahl damals ungewöhnlicher, nichtalltäglicher Kameraperspektiven weitet sich das filmische Dokument ins Surreale oder Magische. Riefenstahls Filme sind (politische, sportliche, erotische) Wachträume, Filme mit erhöhter Temperatur gewissermaßen. Um diese stark subjektivierende, wenn man so will: autorenhafte Perspektive zu verwischen, konnte sie nach dem Krieg allerdings nicht ganz auf den Begriff des Dokumentarfilms verzichten.

Rainer Rother, Autor einer neuen Riefenstahl-Biografie, hat darauf hingewiesen, dass die gleichgeschaltete Filmkritik des Nationalsozialismus für die Olympiafilme den Begriff des „heroischen Reportagefilms“ erfunden hat. Eine Formel, die den schöpferischen Akt ebenso hervorhebt wie die propagandistische Zielrichtung. Bereits den ersten, noch mit Wochenschauelementen arbeitenden Parteitagsfilm „Sieg des Glaubens“ hatte das NS-Blatt Angriff als „künstlerische Sinfonie vom Erlebnis ‚Nürnberg 1933‘ “ genannt. „Dank seiner Wucht und Größe“, so hieß es weiter, „wird dieser Film über das Dokumentarische hinaus ein Kraftquell für das ganze Volk.“ Im nationalsozialistischen Sinne, selbstredend.

Gerade durch den behaupteten dokumentarischen Charakter eröffnen sich Möglichkeiten subtiler Lenkung. Insofern war es nur legitim, auch Riefenstahls Fotos von den Nuba kritisch zu durchleuchten. In der Argumentationslogik so manches Versuchs, Riefenstahl eines per se faschistischen Blicks zu überführen, erwies sich jedoch vor allem die instrumentelle Hilflosigkeit.

Jürgen Trimborn etwa schreibt in seiner soeben erschienenen Biografie, Riefenstahl habe „die Nuba von Kau zielgerichtet zu Statisten ihres künstlerischen Gestaltungswillens und ihrer fotografischen Inszenierungen gemacht“. Und wie tat sie das? „Während sie sich bei ihren ersten Sudanexpeditionen noch mit Normal- und Weitwinkelobjektiven mitten unter die Nuba gemischt hatte und sich mit ihrer Kamera frei bewegen konnte, arbeitete sie bei den Nuba von Kau, zumeist versteckt hinter Bäumen und Felsen, mit großen Teleobjektiven. So konnte sie eine Nähe suggerieren, die es nicht gab, konnte den Eindruck vermitteln, dass die Bilder mit dem Einverständnis der Fotografierten entstanden waren.“ Ist Riefenstahl mithin eine Quadratur des Kreises gelungen: künstlerisch inszenierte Paparazzofotografie? Dann wäre sie wohl wirklich ein teuflisches Genie zu nennen. Oder lässt sich allein durch die Wahl des Objektivs ein Faschismusvorwurf belegen?

Der Publizist Georg Seeßlen, der vehementeste unter den Riefenstahl-Gegnern, führt ein noch verblüffenderes Argument ins Feld. George Rodger, dessen Nubafotos die Riefenstahl überhaupt erst auf das Thema gebracht hatten, habe über die Fotos seiner „Epigonin“ gesagt: „Es sind sicherlich gute Bilder, aber sie haben keine Wärme.“ Ist „Wärme“, oder nennen wie es Empathie, neuerdings eine Zentralkategorie der Kunst (oder der Dokumentation)? Unsinn! Sonst wären wir glücklich bei einer Kunstdoktrin des Guten, Wahren und Warmen gelandet. Bei einer Kunst im Einsatz der Sozialfürsorge.

Bei seiner Einschwörung auf letztlich politische Parameter nimmt Seeßlen gern in Kauf, dass er mit der Riefenstahl auch gleich die Freiheit der Kunst ausschüttet: „Riefenstahl hat für sich stets in Anspruch genommen, sie habe eine vollständig morallose Kunst angestrebt, sich nie für die Wirklichkeit interessiert. Was nicht nur keine Entschuldigung, sondern bereits ein vernichtendes Urteil über eine ‚Kunst‘ ist.“

Seeßlens Furor verfolgt Riefenstahl selbst in den geradezu hobbyfilmerisch harmlosen Bereich ihrer Unterwasserfilme: „Dass ein Korallenriff, so fotografiert, dass es nicht mehr als lebendes System, sondern als ‚reines‘ Kunstwerk erscheint, einem ästhetischen Gewaltakt entspricht – sie wird es so wenig verstehen wie ihre Bewunderer.“ Oje, die ökologische Kunstpolizei ermittelt!

Aber was ist nun: Erklimmt Riefenstahl am Ende den Balkon? Erlangt sie Erlösung? Balkon ja, Erlösung nein. In Thea Dorns Hörspiel macht die zunächst äußerst widerstrebende Dietrich (Gisela May) schließlich mit bei der verordneten Amazonengymnastik als Vorbereitung auf den Film – und die Riefenstahl gute Miene zum sinnlosen Spiel. „Eine Katastrophe! Eine un-be-schreibliche Katastrophe! Wie soll ich denn mit diesem Wrack, diesem alten, kaputten, kranken, hässlichen Wrack …?“ Ach, es ist zu spät für das Projekt der Versöhnung qua Erfolg. In der Theaterfassung des Hörspiels stirbt die Dietrich schließlich unter der energischen Bearbeitung der Riefenstahl. Und damit auch deren letzte, ein wenig irrsinnige Chance auf Anerkennung, auf kollektives Lob.

Ob die echte, die hundertjährige Leni Riefenstahl über den Dorn’schen Humor wohl lachen kann – jetzt, wo der Kraftakt Unterwasserfilm geglückt ist? Zu ihrem 95. Geburtstag erklärte sie dem Zeit-Magazin: „Ich könnte etwas mehr Humor haben. Ich bin zu ernst, zu sehr nach innen gerichtet. Das ist so stark ausgeprägt, dass ich keine Freude an Spielen habe, nicht einmal Lotterie würde ich spielen.“ Welch eine Pointe: Leute, spielt mehr Lotto! Lernt verlieren! Dann bleibt euch – und den anderen – eine Menge erspart.

REINHARD KRAUSE, 41, ist taz.mag-Redakteur