personal der wahl (3)
: Guido Westerwelles zwangloses Coming-out

Herbst in Venedig

Angenommen, es gäbe für jeden Politiker einen moment juste, einen glücklichen Moment der Selbstdarstellung, so läge er für Guido Westerwelle bereits einige Zeit zurück. Vor über zweieinhalb Jahren, lange bevor Westerwelle für das Kanzleramt kandidieren und den Parteivorsitz übernehmen sollte, stand die FDP nicht gut da in den Prognosen. Da reiste ihr damaliger Generalsekretär nach Venedig, einen weißen Anzug ausgezeichneten Zuschnitts im Gepäck und an seiner Seite den Fotografen André Rival und den Journalisten Dominik Wichmann. Deren Auftraggeber war das Magazin der Süddeutschen Zeitung, das am 12. November 1999 ein Interview druckte, flankiert von Fotos, die Westerwelle unter anderem in einer Gondel zeigen.

Der Gondoliere blickt ins Nichts, Westerwelle hat sich auf rotem und goldenem Plüsch eher gebettet, als darauf zusitzen. Breit lächelt er in die Kamera, und von seiner hellen Bekleidung geht ein zarter rosafarbener Glanz aus. Wichmanns erste Frage lautet: „Ihr Privatleben war bislang für die Medien weitgehend tabu. Warum?“ Westerwelle antwortet: „Ich habe versucht, das Private für mich zu behalten. Warum, das kann ich nicht sagen. Vielleicht ist es die Scheu vor zu viel Öffentlichkeit, vielleicht auch meine Erziehung: Sehr Persönliches zu verraten habe ich bislang mit Schwäche gleichgesetzt.“

So geht es weiter, in plauderndem Ton, bald über Politisches, bald über die bevorstehenden Weihnachtstage, bald über die eingetragene Partnerschaft für Schwule und Lesben. Zunächst scheint es, als laviere Westerwelle, wenn die Fragen allzu persönlich werden, doch das Gegenteil ist der Fall: Der Mann hält nicht wirklich etwas zurück, wie ihm die Lobbyisten schwullesbischer Identitätspolitik vorwerfen. Er übt sich vielmehr in der hohen Kunst der Allusion. Die mag zwar einem anderen Jahrhundert angehören, von ihrer Verführungskraft jedoch hat sie nichts eingebüßt. Denn etwas anzudeuten, im Unbestimmten zu belassen, kann die Dinge zum Schillern bringen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In einer der kryptischen Erzählungen aus dem Band „Three Lives“ (1905) legte Gertrude Stein eine Figur an, die auf den Namen Jeff hört, von der man aber nicht genau weiß, ob sie eine männliche oder eine weibliche Figur ist. Dementsprechend ist unklar, ob man es mit einem heterosexuellen oder einem homosexuellen Paar zu tun hat. Dazu passt, dass sich bei Stein Signifikanten und Signifikate nie wirklich vermählen und daher kein Kind namens Sinn zeugen.

„Erotik entsteht doch erst im Kopf“, sagt Guido Westerwelle in der Gondel in Venedig. „Durch eine Assoziation, eine Andeutung, ein Versprechen von Sinnlichkeit. Denken Sie an die Bilder August Mackes, denken Sie an die Rocky Horror Picture Show. Ich weiß noch genau, so als 17-Jähriger, da habe ich den Film zum ersten Mal gesehen. Ich kann Ihnen sagen, da ging es ganz schön ab mit mir.“

Erinnern Sie sich an „The Rocky Horror Picture Show“? Man ging ins Kino und war dabei ausstaffiert wie die Figuren, in wildem Drag, den Text von Liedern und Dialogen auf den Lippen. Ein schöner Coming-out-Film war das, weil die Lust darin so viele Wege kannte. Ob Mann, ob Frau, ob Alien oder Homunkulus, die Devise lautete: „Give yourself over to absolute pleasure“. Das war offener als die Coming-out-Komödien unserer Tage, die ohne das ritualisierte öffentliche Bekenntnis nicht auskommen. Immer muss jemand vor eine Ansammlung von Menschen treten und die Selbstbezichtigung aussprechen. Erst dann hat alles seine Richtigkeit. So betrachtet, hatte Westerwelle in Venedig Wowereit etwas voraus: Er verzichtete auf das Ritual und trotzte somit dem Zwang zur festgelegten, in einem Wort benennbaren Identität.

Aber: Was ist daraus geworden? Statt in der Gondel sitzt Westerwelle in seinem lächerlichen Mobil, fährt über Land, ist beim Volk, bei den Menschen „da draußen“. Ein Langweiler, der sich nach den 18 Prozent reckt wie ein Streber nach der Eins mit Auszeichnung. Einer, der sich in seiner Dumpfheit eingekapselt hat, wenn er in Christiansens Runde von Michel Friedmann verlangt, der solle nun, bitte schön, auch mal einen Schritt auf ihn, Westerwelle, und die FDP zugehen. Einer, der sich nicht zu schade ist, eine gelbe 18 in die Schuhsohle gravieren zu lassen, und diese Schuhsohle in die Kamera hält, damit jeder sieht, dass er an seinen Erfolg glaubt. Oder daran, dass er immer 18 und Klassensprecher bleibt.

CHRISTINA NORD