Stalin vögelt Chruschtschow

Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin steht wegen Verbreitung von Pornografie vor Gericht. Eigentlicher Grund ist sein despektierlicher Umgang mit der nationalen Tradition des Personenkults

Ein deutliches Bekenntnis zur alten Tradition der Dichterliebe?

von KATHARINA GRANZIN

Ein seltsames Sommertheater spielt man da in Moskau. Jugendliche ziehen durch die Straßen, trampeln auf Büchern herum, werfen sie in Müllsäcke und versenken sie neben dem Bolschoi-Theater in ein eigens angefertigtes Fake-Klosett. Zu den Autoren der solcherart zu Fäkalmüll erklärten Werke zählen die bekannten russischen Schriftsteller Sorokin, Pelewin, Jerofejew – und auch ein deutscher Philosoph namens Karl Marx. Der Anführer der Bücherschänder erklärt, es gehe gegen „Pornografie, Sittenlosigkeit, Zynismus und die Verunglimpfung unserer Kultur“.

Auch Russland ist mittlerweile ein Land, in dem es jedem freisteht, die Lektüre seiner Wahl öffentlich ins Klo zu stecken. Was aber nachdenklich stimmen musste, war die Tatsache, dass es sich bei den Kulturschützern um Mitglieder der Kreml-nahen Jugendorganisation „Die zusammen gehen“ handelte, im Volksmund „Putin-Komsomol“ geheißen. Auf den T-Shirts der Jugendlichen, die sie stolz in die Kameras hielten, prangt das Konterfei des Präsidenten.

Am Ende dieses ersten Aktes stand als Hauptschurke der Autor Wladimir Sorokin fest. Vielleicht hat der sogar seine Freude daran gehabt, dass jemand seine Kunst so wörtlich nimmt. Immmerhin stellt er in seinem Roman „Der himmelblaue Speck“ (Dumont Verlag, Köln 2000, 440 S., 24,80 €) ausgerechnet das Bolschoitheater als riesige Kloake dar, in der die Scheiße des ganzen Landes schwimmt. Dass da die Antwort seiner Gegner mit dem Papp-Klo eher mickrig ausfiel, ist von milder Komik.

Der zweite Akt ist ernster. Seit vorletzter Woche steht der Autor vor Gericht. Ein Putin-Komsomolze hat in „Der himmelblaue Speck“ Pornografie ausgemacht und Sorokin angezeigt. Flugs nahm die sonst so überlastete Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf. (Ebenso schnell war der Roman ausverkauft.) Angesichts der vielen Vertreiber tatsächlicher Pornografie, die in Russland unbehelligt ihrem „biznes“ nachgehen, kann niemand ernsthaft denken, dass es bei diesem Prozess wirklich um Pornografie geht. Manche Beobachter vermuten, dass gar nicht Sorokin das Ziel sei, sondern sein Verlag Ad Marginem, der auch den umstrittenen Roman „Hexogon“ herausbrachte, worin der russische Geheimdienst für die Bombenanschläge auf Wohnhäuser verantwortlich gemacht wird, die der Regierung zur Rechtfertigung des Tschtschenienkrieges dienten. Auf jeden Fall kann man befürchten, dass nun, nach der zu großen Teilen schon erfolgten Gleichschaltung der Medien, auch den Schriftstellern eine neue Schere im Kopf verpasst werden soll.

Sorokin selbst verweigert bislang die Aussage, hat aber für Oktober gemeinsam mit seinem Verleger einen Gegenprozess anberaumt: Weil die Jugendorganisation aus dem Zusammenhang gerissene Zitate seines Buches benutzt hat, wird er wegen Verletzung der Urheberrechte klagen – und wegen Verbreitung von Pornografie.

Im Zentrum der jetzigen Anklage steht eine Romanszene, in der eine Figur „Stalin“ (im Roman ein Sowjetführer mit allen Anzeichen eines dekadenten Dandys) und ein „Chruschtschow“ (ein buckliger, sadistischer Graf) es ausführlich miteinander treiben. Die Darstellung ist äußerst explizit, und man muss diese Literatur nicht mögen. Aber dass ausgerechnet diese Szene für anklagewürdig gehalten wird, da doch das Gesamtwerk des Autors wesentlich schockierendere sexuelle Praktiken aufbieten kann, muss wohl eher auf die Verwendung von Figuren namens „Stalin“ und „Chruschtschow“ im Zusammenhang mit schwulem Sex zurückzuführen sein. („Goluboj“, das russische Wort für „himmelblau“, bedeutet auch „schwul“. Und obwohl Homosexualität in Russland nicht mehr strafbar ist, hält ein Großteil der Bevölkerung sie immer noch für eine schlimme Krankheit.)

Der Verdacht liegt nahe, dass Sorokin zu stark an einer nationalen Eigenart gekratzt hat, die zwar nicht mehr offensiv gepflegt wird, aber niemals wirklich aufgearbeitet wurde: dem Hang zum Personenkult. Diese Einrichtung beschränkte sich zu keiner Zeit auf die jeweiligen Generalsekretäre der KPdSU. Man pflegte in der Sowjetunion einen exzessiven Dichterkult, der jedoch nicht allein staatlich gesteuert war, sondern auf die im Lesevolk angelegte bedingungslose Liebe zu seinen Schriftstellern bauen konnte. Die Führer errichteten gigantische Poetendenkmale, zu denen man an Dichters Geburts- und anderen Feiertagen pilgern konnte, um Blumen abzulegen und ergriffen ein Gedicht zu rezitieren. Jedes Pfeifchen und Pantöffelchen aus dem Besitz toter Poeten wurde in den Literaturmuseen von gefühligen Damen so weihevoll vorgeführt wie ein Splitterchen vom Kreuze Jesu.

Bei der Lektüre von „Der himmelblaue Speck“ hat man manchmal das Gefühl, es gebe die Sowjetunion immer noch, so wütend arbeitet der Autor sich an dieser Tradition naiver Heldenverehrung ab. Programmatisch ist dem Roman ein Nietzsche-Zitat vorangestellt: „Es gibt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist m e i n ‚böser Blick‘ für diese Welt, das ist auch mein ‚Ohr‘…“ In diesem Sinne nimmt Sorokin die eigenen, toten Kollegen aufs Korn. Der „himmelblaue Speck“ im Roman ist ein ganz besonderer Stoff, den Dichter beim Schreiben absondern. Er wird aus den debilen Klonen toter Schriftsteller gewonnen und von den Diktatoren als Droge zur unbegrenzten Machterweiterung begehrt. Dieser Plot gibt dem Autor Gelegenheit zu zahlreichen literarischen Parodien und Travestien, die insgesamt als respektlos zu bezeichnen stark untertrieben wäre. Mitunter paart sich ein Vokabular von ausgesuchter Unflätigkeit mit sexuellen Perversionen und Gewaltfantasien vom Feinsten. (Die deutsche Übersetzerin hat Herkuleisches geleistet.)

Der Auftritt der Kulturwächter zeigt, dass die Provokation gut angenommen wird. Es wäre schön zu glauben, dass die Literatur den Leuten tatsächlich noch so am Herzen liegt. Doch näher liegt die Vermutung, dass eine Literatur, die so rasant sämtliche Tabus einrennt, dem Kreml und seinen Anhängern schlicht unheimlich ist. Sorokin ist der perfekte Feind. Ein Schauprozess gegen diesen anarchistischen Tunichtgut, der sogar unsere Dichter verunglimpft, so mag man kalkulieren, bringt dem Schurken wenig Sympathien ein, den Verteidigern der russischen Kultur aber umso mehr. Direkt nach der öffentlichen Versenkung von Sorokins Buch ins Klo gingen „Die zusammen gehen“ gemeinsam zum Tschechow-Denkmal, um dem Dichter Blümchen zu bringen und sich für ihren Zeitgenossen zu entschuldigen.

Ein deutliches Bekenntnis zur alten Tradition der Dichterliebe – oder des Personenkults? Der Präsident schweigt. Und lächelt tausendfach von den T- Shirts seiner Jünger.