Eine tödliche Falle

In Prag sind das historische Zentrum und die Karlsbrücke in Gefahr

PRAG taz ■ „Wir mussten auf einmal den ganzen Keller ausräumen“, erzählt Zlata Kolarova. „Dann haben sie uns den Strom abgestellt, und am Ende mussten wir die Wohnung verlassen.“ Die Kolars wohnen für Prager Verhältnisse recht idyllisch in unmittelbarer Nähe der Moldau. Die jedoch droht an diesem Dienstagnachmittag die tschechische Hauptstadt zu überschwemmen. „Sie haben ein Jahrhunderthochwasser angekündigt“, weiß Zlata Kolarova. Vorübergehend ist sie erst einmal zu ihrer Tochter geflüchtet, die sicher auf einem der vielen Hügel lebt, die Prag umgeben.

Nicht alle Bewohner der Moldaumetropole geben sich so einsichtig wie Zlata Kolarova. Manche weigern sich einfach, den Aufforderungen von Polizei und Rettungskräften zu folgen und zu evakuieren. Jetzt hat Tschechiens Innenminister Stanislav Gross den Ausnahmezustand verhängt; er erlaubt, Stadtbewohner, die sich der Evakuierung widersetzen, zwangsweise aus ihren Häusern zu holen.

In Prag herrscht Weltuntergangsstimmung. Den ganzen Dienstagmorgen lang schrillten Sirenen, klapperten Hubschrauber über dem Stadtzentrum. Sämtliche Stadtviertel in Moldaunähe sind bereits evakuiert worden. Es fahren kaum noch Straßenbahnen oder Busse. Den Bewohnern wurde geraten, das Stadtzentrum zu meiden, weil es im Katastrophenfall zu einer tödlichen Falle werden könnte. Dennoch stehen Massen von Schaulustigen am Moldauufer und warten auf die große Flut.

Besonders gefährdet ist das historische Zentrum Prags. Links der Moldau die Kleinseite samt ihren alten Bürgerhäusern und dem tschechischen Parlament, rechts der Moldau die historische Altstadt, das Nationaltheater und das jüdische Viertel samt seinem weltbekannten Friedhof. Die größte Gefahr, unvorstellbar für viele Prager, droht allerdings der Karlsbrücke. Das Bauwerk aus dem vierzehnten Jahrhundert sollte eigentlich schon längst wegen seiner Brüchigkeit renoviert werden. Die Pläne wurden immer wieder hinausgeschoben, weil der Prager Magistrat die Brücke nicht für ein Jahr sperren und so um eine Touristenattraktion kommen wollte. Jetzt drohen die Fluten die Brücke mit sich zu reißen.

Während die Flutwelle auf Prag zurollt, hat sie weite Teile Südböhmens unter Wasser gesetzt. Historische Zentren wie Český Krumlov stehen vollkommen unter Wasser. In der südböhmischen Metropole Budweis schwimmen sogar die Bierfässer davon. Am schlimmsten betroffen ist derzeit das Städtchen Písek, wo die Fluten sich immer mehr ausbreiten.

Die Einsatzkräfte sind angesichts solcher Wassermassen überfordert. Zwar haben sie zusammen mit Freiwilligen schon ganze Nächte damit verbracht, Sand in Säcke zu füllen. Doch die Wassermengen spülen die Anstrengungen einiger Stunden in Sekundenschnelle fort.

Nervöses Warten auf was kommt, herrscht auch in Neratovice, einer Kleinstadt an der Elbe, etwa 25 Kilometer nordöstlich von Prag. Dort könnten die erwarteten Fluten etwas ungleich Gefährlicheres Richtung Deutschland spülen: In einer ehemaligen Chemiefabrik in Neratovice dümpelt schon seit über 30 Jahren Dioxin vor sich hin, das bei der früheren Produktion entstanden ist. Appelle, die gefährliche Restlast endlich zu entsorgen, hat die Fabrikleitung immer wieder ignoriert. ULRIKE BRAUN