Ein Leben wie selbst erdacht

Der Soziologe Ralf Dahrendorf brachte den konsenssüchtigen Deutschen bei, den Konflikt zu achten. Statt große Theorieprojekte zu verfolgen, mischte auch er selbst lieber in politischen Debatten mit

von PAUL NOLTE

Wer Ralf Dahrendorf ist, muss man glücklicherweise nicht erklären – oder doch? Der Klappentext seines neuen, autobiografischen Buches erinnert an Bilder, die vielen im Gedächtnis haften geblieben sind, allen voran: Dahrendorf mit Rudi Dutschke diskutierend auf einem Autodach in Freiburg 1968.

Aber kennen die Nachgeborenen dieses Bild wirklich noch? In dieselbe Zeit, die Sechzigerjahre, fällt die größte öffentliche und wahrscheinlich auch fachliche Aufmerksamkeit für seine Bücher. Besonders einflussreich war seine Studie über „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“, die man heute einen „Klassiker“ nennt und entsprechend selten liest. Unter den drei großen öffentlichkeitswirksamen Sozialwissenschaftler-Intellektuellen seiner Generation hat Dahrendorf es nicht wie Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann vermocht, zum Fixstern einer „Schule“ oder zur Leitfigur eines politischen Programms zu werden. Er hat aber auch nie danach gestrebt, „Kult“ zu sein, sondern fand früh seine Herausforderung und sein Vergnügen darin, zwischen den Stühlen zu sitzen oder auch Grenzen zu überschreiten. Sich nicht auf „Stammeszugehörigkeiten“ festlegen lassen: das ist eines der Leitmotive in den schmalen, aber dichten Lebenserinnerungen, die der mittlerweile 73-Jährige jetzt vorgelegt hat.

Dabei lässt sich die Stoßrichtung seines Denkens und seines Werkes durchaus auf eine griffige Formel bringen: Er brachte den harmonie- und konsenssüchtigen Deutschen bei, den Konflikt wenn nicht zu lieben, so doch zu achten als Voraussetzung von Pluralität und Freiheit im westlichen, liberal-demokratischen Sinne. Die großen, vielhundertseitigen Theorieprojekte freilich sind seine Sache nie gewesen; dafür dachte er immer zu praktisch und tat dementsprechend früh den Schritt von der Universitätskanzel in die Politik. Das wiederum hob ihn von vielen seiner etwa gleichaltrigen Kollegen ab und machte ihn erst recht zu einem der einflussreichsten Intellektuellen der Bundesrepublik, als er (seit 1974) in seiner zweiten Heimat England lebte und arbeitete und von dort aus das deutsche Geschehen kritisch kommentierte. Doch trotz dieser exzentrischen Position ist Dahrendorf repräsentativ wie kaum ein Zweiter für die Denkstile seiner Generation, der vielzitierten HJ- und Flakhelfergeneration, die nach 1945 zur tragenden Säule einer geistigen Entrümpelung deutscher Traditionen auf dem Boden einer kritischen Westorientierung wurde.

Von dieser Generation kann man eine Gelehrtenautobiografie im alten, bildungsbürgerlichen Sinne vielleicht nicht mehr erwarten. Ralf Dahrendorf hat sich nach eigenem Eingeständnis daran versucht, den so entstandenen Text aber wieder verworfen, umgeschrieben und radikal verdichtet. Als literarische Pointe und biografischen Selbstentwurf zugleich lässt Dahrendorf seine Erinnerungen um die Jahre 1957/58 herum kreisen: sein 28. Lebensjahr, in dem seine Lebenskraft, wie er selbst schreibt, „ihren reinsten Ausdruck fand“. Alles weitere Leben ist „Extrapolation“; der ältere Dahrendorf ist im Innern immer der 28-Jährige geblieben. Das war die Zeit des formalen Abschlusses seiner akademischen Karriere, zwischen der Habilitation in Tübingen, einem prägenden Jahr an der amerikanischen Westküste und der ersten Berufung auf eine Professur in Hamburg. Er schildert sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt und greift doch darüber hinaus, indem er immer wieder spätere Erlebnisse und Erfahrungen, bis in die Neunzigerjahre, in der Kontinuität dieser frühen Prägungen beschreibt. Was ist mit 28 in der Karriere eines Wissenschaftlers und Politikers schon festgelegt, könnte man fragen? Nun, Dahrendorf war ehrgeizig, begabt und schnell; sein Leben vollzog sich, angefangen vom Überspringen der vierten Volksschulklasse, immer auf der Überholspur; er war der „Berufsjugendliche“. Bis zu seinem 29. Geburtstag hatte er die Rollen, die er später spielen wollte, im Wesentlichen durchdacht und durchprobiert: die des Gelehrten und des Soziologen, die des Journalisten und des Politikers.

Dennoch zieht sich durch das ganze Buch, und das ist dem Autor sehr wohl bewusst, die Bedeutung einer ganz anderen, einer überindividuellen Zäsur: die des historischen Einschnittes von 1945. Die erste Hälfte des Buches, die bis zum Zusammenbruch der NS-Diktatur führt, schildert auf beklemmende Weise das Aufwachsen und politische Erwachen in den Resten des sozialdemokratischen Milieus. Der Vater, Gustav Dahrendorf, hatte bis 1933 die SPD im Reichstag vertreten; die Familie war eng mit der von Julius Leber befreundet, der 1945 als Verschwörer des 20. Juli hingerichtet wurde. Der Vater entging nur knapp dem Todesurteil Freislers, Ralf verbrachte 1944/45 mehrere Wochen in Gefängnissen und Lagern der Gestapo. Diese Schlüsselerfahrung habe in ihm den „fast klaustrophobischen Drang zur Freiheit“ erweckt, wenngleich er seine Konversion vom Sozialdemokraten zum Liberalen erst auf die Zeit seines ersten Englandaufenthaltes 1952/54 und auf den dortigen Kontakt mit Karl Popper datiert.

Aber der politische Werdegang bleibt in diesem Buch doch stets im Hintergrund; über die Ausbildung der politischen und wissenschaftlichen Präferenzen Dahrendorfs, über seinen eigenen intellektuellen Selbstentwurf, erfährt man oft nur in Andeutungen. Das Persönliche steht im Vordergrund. Seine Beziehungen zu Frauen lässt Dahrendorf ebensowenig aus wie frühe, ins Sentimentale gehende dichterische Bemühungen, und halb ironisch gesteht er die kleinen Eitelkeiten und die „Ehrgeizkrankheit“ des Hochbegabten, der so früh Karriere machte, ein. Überhaupt wechselt, und das unterstreicht die Bedeutung der historischen Zäsur für die individuelle Biografie, für die Jahre seit 1946/47 der Ton ein wenig; es geht lockerer und witziger zu. Das Studium und seine Nebentätigkeiten wie eine abenteuerliche Seefahrt nach Amerika werden zur Befreiung. Aber die Schilderung verliert sich nie ins Anekdotische: Der Fluchtpunkt des eigenen Lebens, aus historischer Erfahrung und kritischem gesellschaftlichem Bewusstsein Einfluss zu nehmen auf die „Verfassung der Freiheit“, ist auch der Fluchtpunkt dieses Buches. Wie könnte es bei Dahrendorf anders sein? Entstanden ist jedenfalls ein nicht nur sehr persönliches, sondern auch ungemein lesenswertes Buch, das sympathische Leichtigkeit mit ernster Nachdenklichkeit auf elegante Weise verbindet.

Ralf Dahrendorf: „Über Grenzen.Lebenserinnerungen“, 190 Seiten, C. H.Beck Verlag, München 2002, 19,90 €