Der Nutzen der Katastrophen

Erinnerung an das Erdbeben von Lissabon: Damals verteidigte Jean-Jacques Rousseau die Natur mit Hilfe der Zivilisationskritik – eine Wendung, die derzeit viele Politiker von den Elbdeichen verkünden

von RALPH BOLLMANN

Die Naturkatastrophe traf das zivilisierte Europa völlig unvorbereitet. Nur der Vergleich mit einem Krieg schien geeignet, das Ausmaß der Zerstörung fassbar zu machen. „Das Blutbad bei Einnehmung einer Stadt“, schrieb ein Augenzeuge, „ist so schrecklich nicht, als das Erdbeben.“ Auf die seismologische Erschütterung folgte eine Flutwelle, die das Vernichtungswerk vollendete. Am Ende lag Lissabon, trotz des portugiesischen Niedergangs noch immer eine der reichsten Städte des Kontinents, fast vollständig in Trümmern. 30.000 Tote waren an jenem 1. November 1755 zu beklagen.

Die Regierungen nahmen die technokratische Bewältigung der Krise schnell in Angriff. Das englische Parlament gewährte umgehend eine Soforthilfe von 100.000 Pfund für den in Not geratenen Handelspartner. Schließlich wollte man den lukrativen Handel mit Diamanten aus Brasilien nicht gefährden. Auch die Börse reagierte professionell und ließ die portugiesischen Wechsel nicht platzen. Dabei spielte auch die Hoffnung eine Rolle, der Wiederaufbau der zerstörten Stadt könne die Wirtschaft stimulieren.

Für die Konservativen war der Umgang mit Naturkatastrophen nie ein Problem. Sie gehörten zur gottgewollten Ordnung. Doch für die „Linke“, wie wir heute sagen würden, war das Erdbeben ein herber Schlag. Die großen Geister der Aufklärung sahen ihren Glauben an den unaufhaltsamen Fortschritt der Zivilisation zum ersten Mal erschüttert. Der französische Philosoph Voltaire wollte das Ereignis gar nicht akzeptieren. „Mein Verstand lässt diese widerwärtigen Ungeheuer nicht gelten“, schrieb er in seinem Gedicht über „Le désastre de Lisbonne“.

Radikaler gesinnte Geister hatten weit weniger Probleme, die Katastrophe in ihr Weltbild einzupassen – und für die Zwecke der Zivilisationskritik auszuschlachten. Kein Geringerer als Jean-Jacques Rousseau nahm die Natur gegen Voltaires Anklage in Schutz. Schuld an der hohen Opferzahl sei nicht das Erdbeben an sich, sondern der moderne Städtebau. „Gestehen Sie mir zum Beispiel“, schrieb er an Voltaire, „dass nicht die Natur zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken zusammengebaut hatte, und dass wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, so würde die Verheerung weit geringer, und vielleicht gar nicht geschehen sein.“

Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, linksradikaler Umtriebe gewiss unverdächtig, argumentierte erstaunlicherweise ganz ähnlich – ja, er scheute noch weniger als Rousseau vor klammheimlicher Freude über die Katastrophe zurück. Wie heute grüne Politiker hoch oben auf dem Deich die Vorzüge ihrer Ökosteuer preisen, sprach Kant „von dem Nutzen der Erdbeben“ in unverblümter Offenheit. „Es war nötig, dass Erdbeben bisweilen auf dem Erdboden geschähen“, dozierte der Gelehrte aus dem seismologisch ungefährdeten Preußen, „aber es war nicht notwendig, dass wir prächtige Wohnplätze darüber erbauten.“ Kurzum: „Der Mensch muss sich in die Natur schicken lernen.“

Bei dem Berliner Philosophen Horst Günther, dem Autor eines Buchs über das Erdbeben von Lissabon, hinterlässt die Argumentation von Rousseau und Kant „nicht den erfreulichsten Eindruck“. Tatsächlich steht Kants Argumentation in einem gewissen Widerspruch zu seiner eigenen Moral. Schließlich sollte er später den „kategorischen Imperativ“ formulieren, wonach der Mensch nicht zum bloßen Objekt höherer Interessen degradiert werden dürfe. Genau das aber hatte Kant ebenso wie Rousseau getan: Er benutzte die Erdbebenopfer, um Wahlkampf für die eigenen Ideen zu machen.

Aus dem linken Richtungskampf des 18. Jahrhunderts ging schließlich Voltaire als Sieger hervor. Das Übel müsse als solches hingenommen werden und dürfe nicht durch spitzfindige Erklärungen zurechtgebogen werden: Mit dieser Forderung setzte sich der schwerreiche Großintellektuelle aus seinem Genfer Exil schließlich durch. Wesentlich dazu beigetragen hatte der Umstand, dass er diese Überzeugung in seinem Roman „Candide“ im Grundton ironischer Gelassenheit vortrug.

Völlig unbeeindruckt von der Debatte im fernen Frankreich organisierte der portugiesische Minister Pombal den Wiederaufbau Lissabons im Geist des aufgeklärten Absolutismus. Breite Straßen und eine begrenzte Geschosshöhe sollten bei künftigen Erdbeben die Sicherheit gewährleisten. Diese Bauweise mit ihren schnurgeraden Straßen, die sich im rechten Winkel kreuzten, folgte keineswegs den Gesetzen der Natur. Die technokratische Vernunft, an der die Linke angesichts der Katastrophe zweifelte, feierte ihren Triumph.