Der Gipfel der Zumutungen

Die Erde bewohnbar zu erhalten – das ist der Sinn des UN-Gipfels von Johannesburg. Auf nachhaltige Entwicklung käme es an. Und die gelingt nur, wenn sich die Umweltpolitik aus der Ökoecke verabschiedet

von BERNHARD PÖTTER

Die deutschen Ökos müssen am 2. September tapfer sein. An dem Tag wird ihr Lieblingsgegner, Bundesautokanzler Gerhard Schröder, beim UN-Gipfel in Johannesburg auftreten – und sich international als Ökostaatsmann feiern lassen. Denn Schröder kann im Vergleich zu seinen Kollegen eine saubere Bilanz vorzeigen: Atomausstieg vereinbart, Klimaschutzziel fast erreicht, Agrarwende begonnen, Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedet.

Doch die deutschen Ökos sind nicht die einzigen, denen auf dem UN-Weltkongress zur nachhaltigen Entwicklung eine Enttäuschung droht. Der Gipfel von Johannesburg wird für die Beteiligten zum Gipfel der Zumutungen: Die Umweltschützer werden hinnehmen müssen, dass es weniger um Umwelt als um Entwicklung gehen wird; die Industrienationen werden sich am Pranger wiederfinden, weil sie ihre Versprechen der letzten zehn Jahre nicht eingehalten haben; die Entwicklungsländer schließlich werden wieder nicht genug Geld, Hilfe und Gerechtigkeit bekommen, um zum Norden aufzuschließen. Im Gegenteil wird man ihnen auch noch zumuten, unseren Wohlstand nicht oder jedenfalls anders zu erreichen.

So weit, so normal für eine internationale Konferenz. Die größte Zumutung von Johannesburg ist aber die Einsicht, dass die klassische Umweltpolitik am Ende ist. Denn die der Industriestaaten war während der vergangenen drei Jahrzehnte so erfolgreich, dass sie sich selbst in Frage stellt. Inzwischen ist der Himmel über der Ruhr wieder blau, im Rhein wird man bald wieder baden können. Der Druck der Umweltbewegung und die Erfolge der Umweltbürokraten haben unsere Lebensumstände wesentlich verbessert. Wir atmen die sauberste Luft seit Jahrhunderten, ernähren uns immer gesünder und haben eine Trinkwasser im Überfluss. Dreckschleuderindustrien sucht man bei uns vergeblich – ein Teil von ihnen wurde entschärft, der Rest mit allen Belastungen in Entwicklungs- oder Schwellenländer verlagert.

Die Umweltschutzbewegung war so erfolgreich, dass nun die Propheten der Sorglosigkeit Gehör finden. „Die Welt hat beim Umweltschutz im Prinzip den richtigen Kurs, es steht keine ökologische Katastrophe vor der Tür“, propagiert der dänische Statistikprofessor Björn Lomborg in seinem Buch „Apocalypse No!“. Und: „Die Welt, die wir hinterlassen, ist in einem besseren Zustand als die Welt, die wir vorfanden.“

Die gerodeten Urwälder, die leer gefischten Meere, die steigenden Temperaturen der Atmosphäre und die zunehmende Wassernot sprechen eine andere Sprache. Tatsächlich trifft der Ökooptimismus allenfalls für den reichen Norden der Welt zu. Hier ist die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen so unsichtbar geworden, dass Umweltprobleme regelmäßig hinter den Ängsten um Arbeitsplätze, Gesundheit und Sicherheit zurückstehen. Dass zwischen Gesundheit, Job, Sicherheit und Umwelt kein Zusammenhang gesehen wird, gibt Aufschluss darüber, was in der Debatte schief gelaufen ist.

Denn die klassische Umweltpolitik, die die Natur durch schärfere Gesetze, technische Neuentwicklungen und freiwillige Kooperation der Wirtschaft entlastet, hatte ihre Chance. Sie ist gescheitert. In dem Jahrzehnt seit der UN-Konferenz von Rio de Janeiro haben sich die globalen Probleme verschärft. In Brasilien verpflichteten sich damals die Oberhäupter von 178 Staaten dazu, den Raubbau an den Ressourcen der Erde einzustellen: die Atmosphäre schützen, den Wald erhalten, die Vielfalt des Lebens konservieren, die Ozeane als Lebensraum bewahren, Hunger und Armut von Milliarden Menschen bekämpfen und ihnen eine Perspektive geben. Aber sie wollten nicht sagen, wie das geschehen sollte. Mit bösen Folgen, wie die Vereinten Nationen selbst feststellten. Zwar gebe es kleine Erfolge, doch die Trends gehen weiter in die falsche Richtung.

Die Folgen sind auf der ganzen Welt jeden Tag zu spüren: Seit die Flotten der Industrieländer vor der Küste Westafrikas fischen, fangen die einheimischen Fischer kaum noch genug, um zu überleben; die Fundamente der Häuser in Fairbanks (Alaska) müssen gegen das Auseinanderbrechen abgestützt werden, weil der Klimawandel den Permafrostboden auftaut; weltweit sind mehr Menschen vor Umweltkatastrophen auf der Flucht als vor Kriegen; die Exportförderung für Dosenpfirsiche durch die Europäische Union hat die südafrikanische Dosenindustrien und ihre Arbeitsplätze vernichtet.

Das Scheitern von Rio war keine Naturkatastrophe. Es wurde teilweise von den gleichen Staatsmännern betrieben, die in Rio ihre Unterschrift geleistet hatten. Denn vor allem die rasante wirtschaftliche Globalisierung hat Fortschritte verhindert. Immer neue Rohstofflager und Absatzmärkte wurden erschlossen, was zu immer mehr Produktion, Verbrauch und Verkehr führte. Gleichzeitig ging diese Entwicklung an ganzen Regionen und Kontinenten vorbei. Beide Entwicklungen potenzierten die Belastungen der natürlichen Umwelt und die Armut der Menschen.

Der Kampf zwischen der nachhaltigen Entwicklung, von der seit Rio alle schwärmen, und der globalisierten Wirtschaft, die seitdem alle praktizieren, war ungleich. Die Rettung der Welt wurde lächerlich schwachen und unterfinanzierten Organisationen wie der Entwicklungshilfeorganisation Unep übertragen. Die Ausplünderung des Planeten dagegen wurde bestens organisiert: Die Welthandelsorganisation hat die Ausweitung der kapitalistischen Kampfzone mit Macht vorangetrieben.

Für den Erfolg der Globalisierung haben sich die Nationalstaaten selbst entmachtet – vor allem in der Umwelt- und Sozialpolitik. Zwar haben die einzelnen Staaten oft Regeln für die Probleme vor ihrer Haustür, doch Vereinbarungen für den Umgang mit den weltweiten Gütern müssen zäh verhandelt werden. Selbst wenn es etwa für die Benutzung von Straßen oder den Handel mit Devisen und Aktien national sehr wohl Regeln gibt, stößt die Forderung nach den weitaus wichtigeren Leitplanken für den globalen Verkehr mit Gütern oder Kapital auf wütenden Widerstand. Die Unternehmenskonglomerate der Banken, Autobauer, Mineralölfirmen und Medienunternehmen dagegen sind natürlich längst Global Players. Nur folgerichtig nimmt es sich da aus, dass die Profiteure der Globalisierung in Johannesburg ein eigenes Forum bekommen, um ihren Beitrag zu den Problemen zu präsentieren, die es ohne sie nicht oder nicht so deutlich gäbe.

Die möglichen Vereinbarungen spiegeln die Machtverteilung der internationalen Umwelt- und Entwicklungspolitik wider: Die UNO stellt das organisatorische Dach, die nationalen Regierungen feilschen um Details, aber die Entscheidungen fallen in den Firmenzentralen. Die Unternehmen handeln ohne Erfolgsdruck, ohne das enge Korsett leerer Staatskassen und sind nicht öffentlich zur Verantwortung zu ziehen.

Eine weitere Zumutung von Johannesburg wird die Systemfrage sein. Allerdings nicht die Frage nach Kapitalismus oder Sozialismus. Die sozialen wie ökonomischen und ökologischen Verwüstungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und ihrer Satelliten schließen diese Alternative aus. Die Frage ist nicht, wer die Produktionsmittel besitzt, sondern wie er sie einsetzt: Gibt es ein Ende der Verschleuderung kostbarer Ressourcen wie Öl, Gas, Regenwald, Ackerland oder menschlicher Arbeitskraft und menschlichen Erfindungsreichtums? Die Buchhaltung unseres Wirtschaftssystems ist von vorn bis hinten gefälscht: Weder der Verbrauch von Ressourcen noch der Umgang mit Abfällen in Form von Kohlendioxid, Abraum oder nuklearem Müll wird angemessen kompensiert.

Ob die „Entwicklungsländer“ sich dieser wüsten Art des Wirtschaftens bedienen, das wird die Frage von Johannesburg sein. Die Industriestaaten geben dabei ein zwiespältiges Vorbild ab: Einerseits garantieren Wohlstand und demokratische Traditionen in Europa und den USA eine bessere nationale Umweltpolitik und mehr Mitsprache für Betroffene und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für die sozialen, ökonomischen und ökologischen Katastrophen in den Entwicklungsländern sind umgekehrt in hohem Maß auch Korruption und Misswirtschaft der heimischen Eliten verantwortlich. Doch die Demokratien des Nordens setzen auf der internationalen Bühne ihre Interessen ohne Rücksicht durch und bürden die Umweltkosten ihres Lebensstils der Allgemeinheit auf.

Folgen nun die armen Länder diesem schlechten Beispiel, oder schaffen sie, wozu die Industriestaaten nur in der Theorie fähig sind: eine Ökonomie aufzubauen, die den Menschen ihren Lebensunterhalt zu verdienen ermöglicht, ohne die biologischen Grenzen ihrer Umwelt zu überdehnen?

Was also wird Johannesburg bringen? Berge von Papier? Noch mehr Unverbindliches? Die UNO hofft darauf, dass die Ziele von Rio weiter gelten können und sich umsetzen lassen – auch wenn sich die USA, die wichtigste Nation, aus der internationalen Umweltpolitik ausgeklinkt haben. Doch die Aussichten sind nicht ganz so düster, wie es scheint. Denn die Verhandlungslinien in Johannesburg sind fließend: Der Norden ist gespalten in EU und USA, auch die Gruppe der Entwicklungsländer befreit sich aus dem Würgegriff der Ölstaaten. Bereits bei den Klimaverhandlungen von Bonn im vorigen Jahr gelang eine Koalition ohne die USA.

Hoffnung machen auch andere Veränderungen: Indien und China etwa merken, dass Trinkwasserversorgung ohne Berücksichtigung ökologischer Bedingungen nicht machbar ist. NGOs machen zunehmend Druck auf die offizielle Politik. International wächst das Wissen über globale Zusammenhänge: Wenn Sachsen, Bayern und Sachsen-Anhalt unter Wasser stehen, diskutiert Deutschland über Klimaschutz.

Der Weg zur nachhaltigen Entwicklung ist also offen. Aber das würde für die Umweltpolitik einen Neuanfang bedeuten. Denn dann müssten die Belange der Umwelt gleichberechtigt mit den Ansprüchen der Ökonomie und der sozialen Bedürfnisse mit bedacht werden. Umweltpolitik wäre nicht länger der Reparaturbetrieb der Vergeudung. Statt ein Braunkohlekraftwerk um ein paar Grad effektiver zu machen, würde sie gleich auf Biomassekraftwerke setzen. Naturschutz ginge nicht mehr auf Kosten der Menschen in den ländlichen Gebieten und den Entwicklungsländern. Die Menschen verlangten nicht mehr vom Staat, dass er gefälligst mit ihren Steuern die Umwelt schützen solle, sondern träfen diese Entscheidungen jeden Tag als Konsumenten von Lebensmitteln, Energie- und Mobilitätsdienstleistungen. Und der Umweltminister hätte nicht ein machtloses Ressort – das Thema wäre Chefsache.

Nur wenn die Umweltpolitik sich in Johannesburg auf diese Weise aus der Ökonische verabschiedet, hat Zukunft noch Zukunft. Aber werden die entwicklungshungrigen Länder des Südens einen solchen Weg einschlagen? Er bietet ihnen nicht nur wenige Vorbilder. Vielmehr brächte er sie auch in scharfen Gegensatz zu den Herren der Welt in Washington, Brüssel und Tokio. Kurzum: Werden die Industriestaaten ihren Way of Life so revolutionieren, dass er ein Modell sein kann?

Schwer fällt, darauf mit Ja zu antworten. Das zeigt ein weiterer Schwachpunkt klassischer Umweltpolitik. Bisher dominiert die Hoffnung, dass Einsicht in ökologische Zusammenhänge zum richtigen, vernünftigen Handeln führen müsste. Offenbar ist das nicht der Fall, denn die Daten über die globalen Probleme waren auch vor zehn Jahren alarmierend genug, um ein sofortiges Handeln zu fordern.

Wir bewegten uns „sehenden Auges in die Katastrophe“ ist zum Schlagwort aller ökologischen Erweckungsprediger geworden. Ebendiese Katastrophe ist oft allerdings der entscheidende Auslöser für wirkliche Fortschritte: Eine neue Agrarpolitik in Deutschland und Europa würde es ohne die Hysterien um BSE und MKS und das millionenfache Brandopfer von Schweinen, Rindern und Schafen auf den Scheiterhaufen nicht geben.

Und was könnte die USA dazu bewegen, ihren Way of Life grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen – und ihn zu ändern? Amerikanische Umweltschützer debattieren die Frage, ob eine ökologische Katastrophe ähnlichen Ausmaßes, wie es die Terroranschläge vom 11. September hatten, das Land auf einen neuen Kurs bringen könnte. Aktuell sei eine drastische Besteuerung des Energieverbrauchs zwar nicht durchsetzbar, doch auch die Einschränkung von Bürgerrechten, die Steuererhöhungen und staatlichen Subventionen hätte vor den Terroranschlägen niemand für möglich gehalten.

Wer weiß also, ob nicht die USA sich zu radikalen Schritten in der internationalen Umweltpolitik entschließen werden, wenn das Rentnerparadies Florida absäuft, Alaska taut, der Wilde Westen zur Wüste wird oder eine Serie von Wirbelstürmen Washington heimsucht.

Wer die Apokalypse nicht herbeisehnen will, muss sich auf Beharrlichkeit verlegen. Aufklären, Allianzen bilden, lokal oder überregional Druck machen, Vorbilder präsentieren, die Schuldigen benennen, beharrlich dicke Bretter bohren. Die Umweltbewegung in den Industriestaaten kann auf einige Etappensiege verweisen, die in jüngster Zeit erreicht worden sind. Dazu gehören etwa die allgemein kritische Einstellung zur Atomkraft, die Wandlung der gemeinen deutschen Hausfrau von der Wegwerfqueen zur Abfalltrennweltmeisterin oder auch ein Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung. Aber reicht es denn, beharrlich vorzugehen? Haben wir denn noch die Zeit dazu, überrollen uns die Probleme nicht zusehends?

Dieses Denken entlarvt die letzte und grundlegende Illusion der bisherigen Umweltpolitik. Denn wir haben genau so viel Zeit, wie wir uns nehmen. Die Welt geht nicht unter, sosehr wir uns auch anstrengen. Der Begriff „Umweltschutz“ verbirgt den Hochmut, der Mensch müsse seine natürlichen Lebensgrundlagen bewahren, weil sie für jemand oder etwas anderes wichtig seien. Das ist falsch. Natur wird es immer geben. Umwelt wird es immer geben. Aber lassen wir sie, wie sie ist, werden wir uns in ihr nicht mehr wohl fühlen.

BERNHARD PÖTTER, 35, ist Redakteur im Ressort Wirtschaft und Umwelt. Er berichtet für die taz seit neun Jahren über nationale und internationale Umweltpolitik