Neue Ästhetik der Macht

Das TV-Duell zwischen Schröder und Stoiber folgt der Logik fernsehtauglicher Politikinszenierung und kann den Wahlausgang entscheidend beeinflussen

TV-Duelle sind durchaus Teil des Modernisierungsprozesses politischer Kommunikation

Lange haben die beiden Kontrahenten warten müssen. Am morgigen Sonntag ist es so weit: das erste Fernsehduell in der Wahlkampfgeschichte der Bundesrepublik überhaupt und das erste Zusammentreffen von Gerhard Schröder und Edmund Stoiber vor laufender Kamera. Damit wird personalisierte Politik als Schaukampf in einer artifiziellen Kulisse vor distanziertem Publikum zelebriert.

Auch die Präsentation entspricht den Riten der fortgeschrittenen Fernsehgesellschaft: Der Ablauf ist praktisch identisch mit dem eingeübten TV-Ritual von großen Boxkämpfen. Eingebettet in einen Vorbericht, in dem die Kontrahenten, die Moderatoren und die Kulisse vorgestellt werden, und einer detaillierten Expertenanalyse liegt der über die volle Distanz gehende 75-minütige „Fight“. Bei RTL signalisieren schon die Titel der Sendungen die spannungssteigernde Dramaturgie des Schlagabtauschs: „Vor dem Duell“, „Das TV-Duell: Schröder gegen Stoiber“ und „Das TV-Duell – Die Analyse“.

Als Geburtsstunde dieses nun auch nach Deutschland importierten Wahlkampfrituals gilt der 26. September 1960. An jenem Abend wurde im US-Fernsehen die erste Fernsehdebatte mit den Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy und Richard M. Nixon ausgestrahlt – und 70 Millionen US-Amerikaner sahen das Spektakel. Während Nixon etwa zwanzig Kilogramm Untergewicht hatte, blass aussah, unrasiert wirkte, ein schlecht sitzendes Hemd trug und auf ein Make-up verzichtete, war das Erscheinungsbild von Kennedy das genaue Gegenteil: Er kam von einer Wahlkampfreise aus Kalifornien, war gut gebräunt, selbstsicher und wirkte sehr erholt. Während die Radiohörer mehrheitlich der Auffassung waren, Nixon habe die erste Debatte gewonnen, vermittelte der Fernseheindruck Kennedy als vermeintlichen Gewinner. Nixon erinnerte sich später daran, dass er Kennedy noch nie so fit gesehen habe.

Nicht das Duell selbst ist also entscheidend, sondern die Vermittlung über das Medium Fernsehen. Den Stellenwert derartiger TV-Duelle für den US-amerikanischen Wahlkampf verdeutlicht ein Wortwechsel zwischen den Journalisten David Brinkley und Peter Jennings, die 1988 die erste Fernsehdebatte zwischen den Präsidentschaftskandidaten George Bush sr. und Michael Dukakis direkt im TV-Studio mitverfolgt hatten. Brinkley fragte kurz nach dem Rededuell: „Was denken Sie darüber?“ Jennings lakonisch: „Ich weiß nicht. Ich habe es ja nicht im Fernsehen gesehen.“

Im Gegensatz zu den USA kennt das bipolare Großbritannien bis heute keine TV-Duelle. Obwohl insbesondere im Vorfeld der Wahl von 1997 eine breite Diskussion darüber stattfand. Ein Hauptargument dagegen: Derartige Duelle seien schon deshalb nicht nötig, weil Premier und Oppositionsführer einmal wöchentlich bei der „Prime Minister’s Question Time“ im Unterhaus aufeinander treffen.

Dass in Deutschland nun auch das amerikanische TV-Duell für den Wahlkampf adaptiert wurde, passt eigentlich nicht in das hiesige System. Denn die Bundesrepublik weist nach wie vor die klassischen Charakteristika einer parlamentarischen Demokratie auf, in der die Zusammensetzung des Bundestages das parteienpolitische Kräfteverhältnis im Lande spiegeln soll. Im Gegensatz zu dieser konventionellen politikwissenschaftlichen Auffassung gehören die beiden minutiös inszenierten Wahlkampfduelle zwischen Schröder und Stoiber aber zwingend zur Logik der fortgeschrittenen Tele-Demokratie. Denn Fernsehen ist nach wie vor das Leitmedium westlicher Gesellschaften.

Die nun erstmals in Deutschland inszenierten TV-Duelle können daher als Teil des Professionalisierungs- und Modernisierungsprozesses politischer Kommunikation verstanden werden, ohne gleich von einer „Amerikanisierung“ politischer Zustände hierzulande zu sprechen. Inszenierte Politik ist nicht nur schmückendes Beiwerk für eine abgeklärte Wählerschaft, sondern ist durch seine spezifische Ästhetisierung bereits Teil des politischen Prozesses. Kurzum: Nur wer im Fernsehen gut rüberkommt, wird auch bei der Wählerschaft punkten können.

Auch wenn man den TV-Duellen keine wahlentscheidende Wirkung unterstellt, haben sie im Kontext der dramatischen Zuspitzung in den letzten Wochen vor der Wahl eine besondere Signalwirkung, weil sie wesentliche Argumentationsmuster und Charaktereigenschaften der Spitzenkandidaten verdichten. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang allerdings das so genannte „Dritte Duell“ im Bundestag am 12. und 13. September, bei dem Kanzler und Kandidat im Rahmen der Haushaltsdebatte aufeinander treffen. Im Plenum inszenierte Schaukämpfe sind zwar seit langem eingeübte Rituale, gelangen aber nur selten in den Fokus der Öffentlichkeit. Vielmehr noch: Der parlamentarische Betrieb in den Ausschüssen findet in der Routineberichterstattung überhaupt nicht statt, weil das Fernsehen weder zugelassen ist noch ein wirkliches Interesse hat.

Anders bei den anstehenden TV-Duellen. Deren Einfluss auf den Wahlausgang ist auf jeden Fall bedeutend. Zum einen haben sich auch vier Wochen vor dem 22. September nahezu 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler noch nicht festgelegt, welcher Partei sie ihre Stimme geben wollen. Die Fernsehkonfrontation mit den Kandidaten für das Kanzleramt könnte deshalb zu einer enormen Mobilisierung der Unentschlossenen führen und somit den Ausschlag geben.

Zum anderen treten die beiden Kandidaten mit unterschiedlichen medialen Voraussetzungen an: Der telegene Schröder scheint zunächst einmal im Vorteil. Gerade wegen seines Images als Medienprofi wird von Schröder erwartet, dass er sich souverän präsentiert. Über Stoibers Fähigkeiten, ein akzeptables „Eindrucksmanagement“ vorzuführen, darf weiterhin spekuliert werden. Denn: Mimik, Gestik, Stil, Outfit, eingebettet in eine auf das Fernsehen abgestimmte Performance – das sind die Garanten für eine erfolgreiche Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Durch die TV-Duelle erhält der Wahlkampf jenen Dramatisierungsschub, den viele vermisst haben

Dennoch gilt: Trotz aller Zuspitzung auf das Fernsehen als Wahlkampfarena werden die TV-Duelle allein die Wahl nicht entscheiden. Durch sie erhält der Wahlkampf jedoch jenen Dramatisierungsschub, den viele seit Anbeginn vermissten. Dies gilt umso mehr, als mit der Hochwasserkatastrophe ein Thema auf die erste Stelle der Agenda gespült wurde, das eine sinnliche Komponente in den Wahlkampf gebracht und der amtierenden Regierung überraschend Gelegenheit gegeben hat, sich souverän im Krisenmanagement zu bewähren.

Das US-amerikanische Modell der TV-Duelle könnte deshalb auch zu einem Wahlausgang der amerikanischen Art führen. US-amerikanische Wahlkampfmanager sprechen von dem Horse-Race-Phänomen: Wahlkämpfe können auch noch auf der Zielgeraden entschieden werden – also am Wahltag!

DIETMAR SCHILLER