„Das Auto ist ein Irrtum“

Wolfgang Sachs vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie über die Despotie der rasenden Automobilisierung, die Tücken des Fortschritts und den Aufbruch zu anderen Blickwinkeln

Interview JAN FEDDERSEN

taz: Ist es tatsächlich ökologisch, kein Auto zu besitzen und zu fahren?

Wolfgang Sachs: Für mich ist es jedenfalls ein Privileg, keines zu haben. Ich komme auch ohne überallhin.

Haben Sie Angst vor dem Tempo?

Nein, aber Geschwindigkeitsgeilheit ist mir fremd. Aber ich kann die Faszination schon verstehen. Als ich mal aus Amerika kam und das Flugzeug nicht in Düsseldorf landen konnte, bin ich von Leipzig mit einem dicken BMW nach Hause gefahren – und mit 160, 170, 180 nachts über die Autobahn gebrettert. Ich dachte, jetzt hebst du ab.

Aber?

Es war eine Erfahrung, mehr nicht. Doch hat sie mich nicht weiter beschäftigt. Ich wundere mich generell, was an den vielen Elektro- und Motorengeräten so begeistert. Woher haben die Leute die Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen?

Nun, die Waschmaschine war eine Erfindung, die Frauen – in technischer Hinsicht – von der Fron der Hausarbeit sich zu befreien ermöglicht hat.

Untersuchungen sagen: Die Hausarbeitszeit ist wenig zurückgegangen. Mit der Zeitersparnis seit Erfindung der Waschmaschine sind zugleich die Standards darüber, was sauber heißt, gewachsen. Jetzt überlegen sich die Leute länger, was sie anziehen sollen.

Ist das Auto nicht auch deshalb so populär geworden, weil es eine Freiheit verspricht, mobil sein zu können, wann immer und wohin auch immer man will?

Aber es bringt ja kaum Zeitgewinn. Mit dem Auto sind auch Staus verbunden – nicht nur in der Ferienzeit. Meine Fahrt von Leipzig nach Wuppertal fand ja nachts statt, tagsüber wäre es mir nie gelungen, so schnell über die Autobahn zu ballern. Und, was viel gewichtiger ist: Die Automobilisierung hat dazu geführt, dass die Städte immer ausufernder angelegt und ausgebaut werden.

Inzwischen sind viele Menschen, selbst wenn sie es anders wollten, auf ein Auto angewiesen.

Ja, das ist wirklich fatal. Die Orte, die für sie eine Rolle im Alltag spielen, der Arbeitsplatz, der Kindergarten oder die Schule der Kinder, die Einkaufsgeschäfte, liegen so weit voneinander entfernt, dass es ohne Auto nicht mehr geht.

Aber letztlich wurde doch niemand gezwungen, so zu leben.

Doch, und zwar ohne dass es jemand merken konnte. Die Menschen sind nie vor eine Wahl gestellt worden. Die systemische Frage, welche Verkehrsinfrastruktur wir haben wollen, die wird nie gestellt – sie ist immer schon hinter dem Rücken vieler unscheinbarer Entscheidungen getroffen worden. Ob ich persönlich ein Auto möchte oder nicht, spielt dabei keine Rolle: Die meisten könnten gar nicht anders.

Beschreiben Sie nicht ein Problem, das erst mit der Demokratisierung auftauchte? Seit den Fünfzigerjahren können sich auch Menschen aus der Arbeiterklasse ein Auto leisten – und sie wollen es, weil das Auto einen Freiheitsgewinn verspricht.

Das mit der Demokratisierung stimmt nicht so ganz. Zugang zu einem Auto hat doch nur knapp die Hälfte der Bevölkerung – ausgeschlossen sind Kinder, Jugendliche, Menschen, die nicht das Geld für ein Auto haben, Frauen mehr als Männer. Und dass die Städte Autofahrer bevorteilen, schließt zugleich Fußgänger und Radfahrer aus. Das wird gerne übersehen.

Und doch nutzen Menschen gerne alle Verbesserungen, um woandershin zu kommen. Touristen, die über Dänemark nach Schweden fahren, nutzen allen Fähren zum Trotz, auf denen sie eine ohnehin nötige Pause machen könnten, doch die Straßenverbindung zwischen Kopenhagen und Schweden.

Die es zwischen Sizilien und der italienischen Stiefelspitze noch nicht gibt – aber geben soll. Und das finde ich problematisch schon deshalb, weil der Charakter dieser Insel zerstört wird.

Aber Inselbewohner, wie auf Sizilien oder in Norwegen, wollen Brücken, weil sie ihnen ermöglichen, ihre Insel zu verlassen, wann immer sie möchten.

Ich glaube, wir sind im historischen Gang der Dinge über die Epoche hinaus, wo der Mangel daran liegt, keinen Anschluss zu haben. Wir haben vielleicht schon zu viel davon. Den Charakter der Insel aufzuschließen, nimmt was weg. Tendenziell kommen wir heute zu schnell wohin. Die Differenzen gehen verloren. Städte sehen sich weltweit immer ähnlicher, überall findet man die gleiche Konsumstruktur.

Was schlagen Sie konkret vor?

Nichts. Ich will nur aufmerksam machen. Es kann sein, dass das Auto uns alle gleicher gemacht hat, aber gleicher nur innerhalb einer Despotie. Wir haben keine Wahl mehr. Das ist mir wichtig zu sagen: Das Auto ist kein Luxusgut mehr – eher ein Fall von Selbstverteidigung. Eines, um nicht deklassiert zu werden.

Das Auto zählt für die meisten Menschen ebenso zum Bedürfniskanon, wie sie den Wunsch haben, die Welt zu erkunden – als Touristen. Deshalb wollen sie schneller und öfter irgendwo ankommen. Massentourismus ist das Wort dafür. Bedeutet es nicht programmatisch: Nicht nur die Reichen, sondern auch wir Proleten gucken mal hinter die Horizonte?

Ein drastischer Vergleich sei mir erlaubt: Die Soldaten, die für den Kaiser in den Krieg zogen, fühlten sich nie so stark wie auf den Schlachtfeldern. Es war für sie eine einmalige Erfahrung von Tapferkeit, Kameraderie und Patriotismus. Für den Einzelnen war der Krieg eine orgiastische Erfahrung – wie für einen Autofahrer die Geschwindigkeit. Trotzdem ist der Krieg ein historischer Irrtum. Ich glaube, dass es mit dem Automobil genauso ist.

Auto und Krieg – das ist eine seltsame Assoziation.

Mobilität ist als Wort im Krieg geprägt worden: Mobilisierung von Truppen.

Aber daran denkt doch kein gewöhnlicher Autofahrer, wenn er heute seinen Urlaub plant.

Natürlich denkt da keiner dran. Und es sei auch niemandem unbewusst unterstellt. Ich will doch keinem einen Freiheitsdrang verhageln. Aber als Ökologe erlaube ich mir die Vermutung, dass die Irrtümer ähnliche sind.

Mobilität braucht man also nicht?

Erzwungene Automobilität, nein, die macht die Erde kaputt.

Plädieren Sie für Verzicht?

Nein, das ist ein ganz ungeeignetes Wort, um zu beschreiben, was wichtig wäre. Ich würde sagen: ein Desinteresse zu kultivieren.

Wenn jemand nicht Auto fahren soll, fährt er doch extra: Gerade das Verpönte macht es doch erst attraktiv.

Steuerbar ist Desinteresse gewiss nicht.

Gerade Kinder, denen man versucht hat, das Fernsehen zu vergraulen, werden, wenn sie älter geworden sind, häufig TV-Junkies. Müssen die Menschen nicht selbst erfahren können, dass ihnen das Autofahren oder das Fernsehgucken kein nachhaltiges Vergnügen mehr bereitet?

Können wir uns das leisten? Ich glaube nicht, dass erst jedermann seine Erfahrungen machen muss, um sie dann hinter sich zu lassen.

Menschen lernen nur auf diese Art.

Weniger Fernsehen ist unendlich viel leichter als eine Gesellschaft automobilisierungsfreier zu organisieren. Das ist das Despotische am Auto. Ohne Motor zu leben, geht kaum noch. Selbst wer kein Auto hat, muss Bus fahren.

Möglicherweise ist das Despotische, wie Sie es nennen, die aktuelle Beschreibung der Menschheitsentwicklung.

Ja.

Muss man das aushalten?

Hoffentlich nicht. Und hoffen wir zugleich, dass am Ende des Tunnels noch was da ist.

Woraus schöpfen Sie Hoffnung?

Ich will die Frage mit einer Geschichte aus meiner Familie beantworten: Noch mein Großvater ging davon aus, gegen Frankreich wieder in den Krieg zu ziehen. Das war seine Sehnsucht, einem patriotischen Ideal nachzukommen.

Heute wäre sie unbegreiflich.

Eben. Vielleicht sind wir in einigen Jahrzehnten in einer vergleichbaren Situation: dass uns eine gewisse Art von industrialistischer Besessenheit genauso schräg vorkommt wie ein Feldzug nach Frankreich.

Und wie soll das möglich werden?

Es gilt, das Privileg, ein Auto für uninteressant zu halten, attraktiv zu machen. Den Mythos vom Auto, das einen Freiheitsgewinn garantiert, zu destabilisieren, das wäre hilfreich.

Mehr zu den Themen Kultur, Umwelt und Entwicklung in Wolfgang Sachs’ Buch „Nach uns die Zukunft. Der globale Konflikt um Gerechtigkeit und Ökologie“. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2002, 218 Seiten, 19 Euro