Pneumatische Beförderung

Bei einem Fachmann für Rohrpostanlangen

von GABRIELE GOETTLE

Hans-Jörg Voß, Techniker, zuständig f. d. Rohrpostanlage i. Universitätsklinik Charité zu Berlin. Am 1. 9. 1950 Einschulung i. d. Gerhard-Hauptmann-Schule i. Friedrichshagen, Umzug u. Umschulung i. d. 1. Grundschule Bln./Treptow (wurde ab 1959 10-klassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule). Schulende 1961. Am 1. 9. 1961 Beginn d. Lehre als Elektrotechniker u. Elektromechaniker beim VEB f. Fernsehelektronik i. Bln./Rummelsburg. 19. 2. 1964 Ablegung d. Prüfung z. Elektrotechniker (Abschl. gut). Bis 1965 Weiterarbeit i. Werk wg. 3-Schicht-System Wechsel zum FFAB (VEB-Funk- und Fernsehanlagenbau) i. Berlin. Beginn m. d. Montage v. Rohrpostleitungen. Vom 3. 5. 65 bis 26. 10. 66 Unterbrechung durch Ableistung d. Wehrdienstes. Danach Forts. d. Rohrpostmontage beim FFAB, unterwegs i. d. gesamten DDR, Einbau u. a. in Schiffen, div. Verwaltungseinrichtungen u. Werken. Ab Oktober 71 i. d. Funktion als bauleitender Monteur auch auf Montage i. Ausland gearbeitet: 1973 Polen u. Bulgarien, Einbau v. Rohrpostanlagen i. Betrieben. Danach Syrien, Rohrpost f. Zementwerke (Lieferung kompletter DDR-Zementwerke, inkl. Rohrpostanlagen). Ab 1979 Einsatz mit seinem Kollektiv von der FFAB auf der Baustelle d. Charité, Montage d. Siemens-Rohrpostanlage NW 100. 1982 wurde d. 1. Bauabschnitt i. Betrieb genommen. Im gleichen Jahr Montageaufenthalt i. Algerien, mehrmalige Unterbrechungen durch Arbeiten a. d. Charité. 1984 letzter Auslandsaufenthalt i. Guinea (fernmeldetechnische Anlagen i. einen Hotelkomplex eingebaut). Nach d. Rückkehr Weiterarbeit m. d. Kollektiv a. d. Charité. 15. 2. 1989 direkte Anstellung i. d. Charité (Brigadier d. Rohrpostkollektivs). 1997–98 Einbau d. Walther-Rohrpost-Anlage NW 100 (i. d. Inneren Klinik d. Charité) u. Verbindung m. d. Siemens-Anlage, 1999 Übergabe. Schulungen: 1985 Schweißerpass. Lehrgang Starkstromtechnik, f. Facharbeiter i. Bereich Nachrichtentechnik. Ehrungen u. Auszeichn.: zw. 1979 u. 1982 mehrmalige Auszeichnung (als Mitglied d. Kollektivs) „Bestes Kollektiv auf d. Großbaustelle Charité“. 1970 Aktivist d. sozialistischen Arbeit. Bei d. Übergabe d. Rohrpostanlage Auszeichn. Mit d. Orden „Banner der Arbeit“ Stufe III. Auszeichnungen im Sport: Berliner Waldlaufmeister üb. 1.500 Meter, Hallenmeister üb. 1.000 Meter, Berufsschulmeister (alles Ende 1960, 1957 Eintritt i. d. Sportverein „Turbine Bewag“). Hans-Jörg Voß ist am 3. 9. 1944 in Gablonz/Böhmen (heute Jablonec/Tschechien) geboren, sein (Stief-)Vater war Ingenieur u. Hauptabteilungsleiter im Werk für Fernsehelektronik, seine Mutter arbeitete im Betrieb als Sekretärin. Er ist geschieden und hat aus erster Ehe 3 Kinder. Seine zweite Frau ist gelernte Schneiderin u. berufstätig.

Schier unvorstellbar scheint heute, im Zeitalter von Internet, Electronic-Mail und Fax, dass es bereits vor fast 150 Jahren ein überaus modernes, nicht elektronisches Übermittlungssystem für schriftliche Botschaften gab. 1853 wurde in England die erste Rohrpostanlage der Welt in Betrieb genommen, zu einer Zeit, als an die allgemeine Einführung des elektrischen Stromes, an Telegrafenamt oder Telefon noch nicht zu denken war. Sie durchquerte das Bankenviertel Londons und führte auf direktem Weg zur Börse. Diese „pneumatische Bahn“ hatte noch einen wesentlich größeren Rohrdurchmesser als die späteren Anlagen, und sie trat eine Weile in Konkurrenz zur Dampflokomotive, entwickelte sich dann zur ersten U-Bahn in London. Man kam schnell davon ab, alles, Briefe, Waren bis hin zu Personen, im neuen System transportieren zu wollen, und beschränkte sich bald auf das Wesentliche: Die Rohrpost wurde ein Transportsystem, mit dem sich Briefe, Telegramme, Karten und Kleinsendungen schnell, geheim und zuverlässig in zylindrischen, projektilartigen Hülsen mittels Druck- oder Saugluft über weite Strecken durch unterirdisch verlegte Rohre befördern ließen. Bis 1912 gab es in fast allen Weltstädten, neben den privaten Hausrohrpostanlagen nur für den Geschäftszweck, ein immer umfangreicher werdendes öffentliches Rohrpostnetz. Paris besaß die größte Anlage, man hatte die Rohre kurzerhand durch die Katakomben verlegt. Wie sehr die „bessere“ Pariser Gesellschaft das neue Medium nutzte, spiegelt sich auch in Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit wider, im Versenden der „petits bleus“, den graublauen Rohrpostbriefchen, mit belanglosen Einladungen und Benachrichtigungen. Vom Sender zum Empfänger brauchte die Sendung nur maximal 2 Stunden, sie wurde von Fahrradboten überbracht – und, da „le petit pneu“ in aller Munde war, gab man auch Sendungen auf in benachbarte Häuser.

Die Rohrpost schien das Morgenrot zu sein für die großen Visionen der Ingenieure des frühen 20. Jahrhunderts von der durchgestalteten, funktionellen Metropole, der Beherrschbarkeit des Durcheinanders der Dinge und Interessen. Die Blütezeit der Rohrpost liegt in der Zeit zwischen 1880 und 1945. Den explosionsartig ansteigenden öffentlichen und vor allem amtlich-bürokratischen Schriftverkehr verschlang sie mühelos, trotz Konkurrenz durch Telegrafie und Telefon. Besonders bemerkbar machte sich die Schriftstücklawine in Deutschland, in Berlin stieg die Zahl der Rohrpostsendungen unter der Naziherrschaft sprunghaft an, zudem hatten alle Reichsministerien (zum Teil geheime) Rohrpostverbindungen untereinander. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Zeit der Rohrpost vorbei zu sein. Nicht nur in Europa, auch in Nordamerika wurden die meisten öffentlichen Rohrpostsysteme in den 50er-Jahren stillgelegt. Nur Paris betrieb seines bis zum Jahr 1984.

Kaum von der Öffentlichkeit bemerkt, werden auch heute immer noch Rohrpostanlagen benutzt und neu eingebaut. Sie können nämlich etwas, das kein Fax oder E-Mail je können wird, sie transportieren Material. Deshalb sind Hausrohrpostsysteme z. B. für Banken, Bibliotheken, Supermärkte, Flughäfen oder auch große Krankenhäuser wie die Charité unverzichtbar. Wir sind verabredet mit Herrn Voß. Er ist quasi die Mutter der Charité-Rohrpost, baute sie in den 70er-Jahren mit ein, hat sie sozusagen großgezogen, kennt sie in- und auswendig, er kann jedes ihrer Wehwehchen erlauschen und beseitigen. „Sein“ Rohrpostsystem versorgt eines der berühmtesten deutschen Krankenhäuser. Die Charité wurde zwischen 1976 und 1982 modernisiert und um ein Bettenhochhaus für alle chirurgischen Disziplinen erweitert, seit 1994 – dem Zusammenschluss mit dem Rudolf-Virchow-Klinikum – ist sie die größte medizinische Fakultät Europas. Vor dem Hochhaus zeigt sich der übliche Patienten- und Besucherverkehr. Die automatische Tür steht offen. Man wandelt in Bademänteln, hat Verbände, ist an Schläuche gefesselt, hält Zigarette oder Getränkebüchse in der Hand. Herr Voß erwartet uns an der Information, hat einen sehr festen Händedruck und führt uns zum Aufzug. Es geht hinunter, zum tiefsten Punkt der Charité. Die letzten zwei Stockwerke steigen wir zu Fuß hinab in den Keller. Hier unten befinden sich die Versorgungs- und Funktionsebenen. Hier befindet sich auch die Rohrpost-Hauptzentrale hinter einer unscheinbaren Tür, ein weißgetünchter hoher Raum, durchzogen von Rohren, die, teils gebündelt nebeneinander, teils sich trennend, in der Decke verschwinden. Die an- und abfahrenden Büchsen in ihrem Inneren sieht man an einer transparenten Stelle vorbeihuschen. Sie machen ein Geräusch wie eine Kegelbahn. Herr Voß deutet zur Decke: „Hier kommen 9 Rohre an und gehen 9 Rohre wieder ab. Es kommen alle Rohrpostbüchsen erst mal hierher, und über diese Zentralweiche werden sie dann abgeleitet in die einzelnen Linien zu ihrem Ziel. Also vielleicht zuerst, bevor ich’s genauer erkläre, ein paar Zahlen: Diese Anlage ist also eine Siemens NT 100. So eine automatischen Zentrale hatten wir damals in der DDR noch nicht, bei uns saß anstelle dieser automatischen Weiche immer noch eine Bedienperson, die umgeladen hat, deshalb wurde damals die Siemens-Anlage importiert und hier eingebaut. Die Gesamtlänge unserer Rohrpostleitung beträgt 25 Kilometer. Pro Tag haben wir etwa dreieinhalbtausend Fahrten im Durchschnitt auf 24 Stunden. Etwa 815 Büchsen sind in Umlauf. Die meisten Fahrten gehen zwischen den Stationen und Laboren hin und her, mit Urin- und Blutproben, Analysematerial und den Ergebnissen, Akten, Berichte, Röntgenbilder auch. Die Küche hat täglich auch sehr viele Fahrten für Bestellungen und Nachbestellungen, Essenszettel usw. So eine Büchse kann im Prinzip 2 Kilogramm an Gewicht mit aufnehmen, es muss eben nur hineinpassen, letzten Endes.“

Er reicht uns eine Büchse: Sie ist aus massivem Kunststoff, hat einen transparenten Zylinder, zwei schmale Filzmanschetten und metallene Einstellringe zur Kodierung sowie einen Deckelverschluss. „Bombe sagen wir dazu. Schicken Sie uns mal ’ne Bombe“, erklärt Herr Voß, steckt die Büchse in die Sendevorrichtung und sagt: „Lassen wir sie mal rumfahren. Wir fahren mit 8–12 Metern pro Sekunde, also etwa mit 40–60 km/h.“ Kurze Zeit später landet die Büchse mit klackendem Geräusch in einem elegant geschwungenen kufenversehenen Auswurf am Boden, dem so genannten Schuh. „Dieser Auswurfschuh ist praktisch eine Fehlstation, hier – oder auch in unserem Werkstattraum – kommen die Büchsen heraus, die das System ausspuckt, weil sie falsch kodiert sind. Es ist ja eigentlich ganz einfach, hier auf der Büchse haben wir den Buchstabenring, mit dem ich die Linie einstelle, also Linie A, B, C …, und dann haben wir den Zahlenring, auf dem stelle ich das eigentliche Ziel in dieser Linie ein. Also A ist alles, was unterm Hochhaus ist, bis in die 5. Ebene, B ist im Prinzip Röntgentrakt und Hausklinik, C und D wäre das Hochhaus ab der 5. Ebene, E ist Intensivstation und OP-Bereich, G ist im Prinzip die Speisenversorgung und die Verbindung rüber zur 2. Zentrale. Das muss also richtig eingestellt werden, und wichtig ist auch, weil ja die Einstellung der Ringe innen im Rohr auf eine Abtastung trifft, dass die Büchse nicht falsch herum eingelegt wird, denn dann kann sie ja nicht abgetastet werden, dann wird’s eine Fehlbüchse, die bei uns landet. Sie muss immer in Pfeilrichtung eingelegt werden, also am Sender, wo sie eingelegt wird, ist ein Pfeil, und an der Büchse selbst ist auch einer. Das müsste eigentlich zu machen sein von qualifiziertem Personal wie Ärzten und Schwestern. Aber die interessiert das gar nicht, sie schmeißen’s rin, und dann heißt es, das war der Doktor selbst, der hat ja kein Verständnis für die Technik. Wir erklären immer wieder alles, es geht aber leider oft schief.“ Wir gehen durch den halbdunklen Kellergang hinüber in den Gebläseraum. Nach dem Öffnen der schweren Eisentür dröhnt ohrenbetäubender Motorenlärm. Drin stehen 3 Kompressoren, zwei davon arbeiten, ein dritter ist in Reserve. „Die werden turnusmäßig umgeschaltet“, brüllt Herr Voß, „sodass jedes Gebläse mal arbeitet … Also die saugen jetzt praktisch alle Büchsen, die in den Linien drin sind, zur Zentrale, ich erkläre das gleich noch etwas genauer …“

Es bläst und zischt. Man hat das Gefühl, das Schließen der Tür ist wie das Verstopfen einer undichten Stelle zur Hölle. Wir kehren in die vergleichsweise ruhige Hauptzentrale zurück, in der nur das Klacken wie von weggeschossenen Kegeln die Ruhe durchzuckt. „Das sind nur die Schleusenklappen“, sagt Herr Voß und deutet auf eine Fehlbüchse, die im Auswurfschuh liegt. „Schon wieder!“

Herr Voß tritt zum Schreibtisch, auf dem ein Computer steht, ein paar Filzmanschetten liegen herum, eine Beißzange und eine defekte Büchse. Er skizziert mit flüchtigen Strichen das Schema der Anlage. Die ypsilonartig sich verzweigenden Leitungen, erfahren wir, sind die Zentralweiche, von der aus die Büchsen, wie gesagt, in ihre Ziellinie gebracht werden. „Die Sendelinie ist ja so aufgebaut wie eine Schleife durchs Haus, sodass sich einmal aufsteigend, einmal senkrecht fallend die Büchsen zum Ziel bewegen … Also, die Gebläse, die sie gerade gesehen haben, die saugen die Büchsen aller Linien gleichmäßig an, zur Zentrale. Normalerweise wird die Büchse dann gesaugt bis zum höchsten Punkt des Hauses, von da aus fährt sie durch eine Schleuse und fällt in der Senkrechten quasi, durch das Eigengewicht befördert, in die Station rein. Sie wird dabei noch ein bisschen abgebremst durch die Klappen in den Röhren, dadurch bildet sich ein Luftpolster, denn die Büchse schiebt ja Luft vor sich her. Das Spiel der Büchse in der Röhre beträgt maximal 2 bis 4 mm, das schließt also sehr gut ab. Deshalb müssen wir auch gut darauf achten, dass der Filz nicht zu sehr abgefahren ist, sonst wird die Büchse „untermassig“. Darum müssen eben die Filze regelmäßig erneuert werden. Man kann das Rohrpostsystem eigentlich mit einem Staubsauger vergleichen. Der saugt den Dreck vom Boden, und wir saugen die Rohrpostbüchsen durch die Rohre. Die Gebläse sind jetzt quasi der Motor, der einen Unterdruck herstellt und je nachdem, wie stark der ist, verhält sich auch die Geschwindigkeit, mit der angesaugt wird. Wenn ich aber sauge, muss ich die Büchse ja irgendwie aus dem System wieder rauskriegen. Wäre es an beiden Seiten offen, dann würde ich sie nie rauskriegen. Dafür gibt’s das Ausschleusen der Büchse, und das muss man sich so vorstellen, als wenn ich eine Wasserschleuse arbeiten lasse, wenn das Schiff einfährt. Die Büchse fährt also in die Schleusenkammer ein, dann geht die Klappe zu, die andere Klappe wird kurz betätigt, und dadurch ist praktisch wieder dieser Ausgleich mit der Außenluft hergestellt und die Büchse fällt durchs Eigengewicht heraus.“

Auf der Bahnhofsuhr über Schreibtisch und Computer rückt der große Zeiger entschlossen über den kleinen. Es ist 12 Uhr Mittag. Die polternden Kegelgeräusche aus den Rohren der Weiche haben stark abgenommen. Herr Voß sagt, dass er oftmals an den Geräuschen bereits erkennt, dass etwas nicht in Ordnung ist und sogar, was nicht in Ordnung ist. „Beispielsweise der Ton der Klappen, der ist ja ganz typisch, oder wie hier die Schieber laufen – das höre ich sofort, wenn die andere Geräusche bringen oder auch wenn die Spindeln nicht sauber laufen, das hört man ja … und natürlich auch, wenn hier irgendwo eine Verstopfung ist, da wo die Rohre abgehen, also wenn’s einigermaßen ruhig ist, so wie jetzt, dann höre ich ganz genau diesen Rauscheffekt im Rohr … Da ist ein anderes Rauschen, ja … und ungefähr kann ich das dann einschätzen, da oder da muss die Verstopfung sein. Wir reparieren ja alles alleine, was andere längst von Fremdfirmen reparieren lassen und dann oft Leistungen in Rechnung gestellt kriegen, die gar nicht notwendig sind, wenn man die Anlage gut kennt. Wir reparieren nicht nur Büchsen, wir beseitigen alle Störungen, die so auflaufen, selber …Verstopfungen, alles. Hier kommt es auf eilige Behebung an, es kann ja sein, dass in so einer Büchse, die verstopft, zum Beispiel Material drin ist, Blutproben, dann könnte das schon hart werden, zu warten, bis so eine Firma kommt. Wir machen uns sofort an die Arbeit. Wir können, wie gesagt, in etwa einschätzen, wo es sitzt, und versuchen es erst mal mit Luft, aber viele Sachen kann man nicht mit Luft machen, da müssen wir dann öffnen und es rausschieben … und wenn sich das richtig verkeilt hat, dann gibt es natürlich erst mal Probleme. Früher wurden die Muffen – also die Verbindungsstücke zwischen den Rohren – alle geklebt, und da konnten wir nur an ganz bestimmten Punkten das Rohr aufmachen. Heute bei dieser Anlage ist es so, dass ich praktisch jede Muffe aufmachen kann. Sie sehen, die Muffe ist hier nur verschraubt, wir haben ja keine PVC-Rohre, sondern Stahlrohre – deshalb auch dieser Erdungsdraht hier überall für den Potenzialausgleich, damit nicht, wenn mal ein Kabel von der Decke fällt und beschädigt ist, das alles unter Strom gesetzt wird. Ja, und wenn wir die Muffe dann aufgemacht haben, dann stoßen wir die Büchse raus, der Abstand zwischen zwei Muffen beträgt so zirka 6 Meter, das geht ganz gut. Und dann gibt’s Störungen, die im Prinzip gar keine sind. Wenn also Sender, das heißt Eingabeöffnungen für die Büchsen, offen gelassen wurden … das ist auch wie bei Wasser, Wasser sucht sich immer den kürzesten Weg, die Luft auch. Wenn ich irgendwo aufmache, dann ist die Strecke dahinter so gut wie tot, und dann entsteht eine Störung. Ebenso durch Büchsen, die nicht gleich entnommen werden, wie es in der Entbindung häufig vorkommt. Da sind im hinteren Bereich ja die Kreißsäle und vorne ist die Rohrpoststation. So gegen Feierabend passiert es meist, dass sich die ankommenden Büchsen übereinander stapeln, weil niemand sie rausnimmt. Die Station fährt zu. Alle Diensthabenden sind hinten im Kreißsaal, die haben zwar ein Signal für die Rohrpost, aber können sich nicht kümmern in dem Moment. Nach einer gewissen Zeit bekommen wir dann bei der Schichtleitung hier eine Störmeldung und handeln.“

Er führt uns in den hinteren Teil des Raumes, wo unter den Rohrleitungen die Relaiskästen ab und zu Geräusche von sich geben wie professionelle Spielkartenmischer. Er zeigt auf ein Gerät: „Das haben wir uns selber mal gebaut, damit wir wirklich ’ne anständige Anlage haben, denn wenn es nach ‚Herrn Siemens‘ gegangen wäre, dann hätten wir hier nur Störungen, solche, die eigentlich keine sind, aber sofort als solche gemeldet werden. Das haben wir also verzögert, um einen Spielraum von 20 Minuten, bevor sie durchgeschaltet werden. Es ist ja möglich, dass die Schwester zwischenzeitlich die Büchsen rausnimmt, und dann ist alles in Ordnung. Siemens hätte die Störung sofort durchgeschaltet. Von den aufgestapelten Büchsen wird der Stapelkontakt betätigt, dann schaltet die Linie ab und, wie in der Kettenreaktion: die Hauptanlage, die nächste Anlage – und am Schluss steht alles still. Das ersparen wir uns. Also, wir haben die Anlage unseren Bedürfnissen etwas angepasst, haben einige Sachen reingebracht zur Verbesserung. Die Kollegen sind ja alle sehr praktisch, es wurde viel erfunden früher, Neuererwesen hieß das in der DDR, das ist damals sehr gefördert worden. So, jetzt gehn wir mal zur Zentrale II, damit Sie auch mal so die Dimensionen sehen. Drüben in der Inneren Klinik haben wir ja die Walther-Rohrpost-Anlage, die unterscheidet sich aber von der Siemens-Anlage zum Beispiel durch das Kodierungssystem. Die Siemens-Anlage ist ja büchsengesteuert und bei der Walther-Rohrpost-Anlage wird das Ziel an der Station eingegeben und auf einem Transponder gespeichert. Ein Transponder ist ein Sender-/Empfängerelement in einer kommunikationstechnischen Anlage. Beide Systeme sind miteinander verbunden, also die roten Transponderbüchsen fahren auch in das alte System. 1997/98 wurde die Anlage in der Inneren Klinik eingebaut, sie wollten eigentlich was Modernes reinbringen … Es ist zwar die modernere Anlage, aber es ist auch die langsamere Anlage, das muss man ganz deutlich sagen.“

Wir treten hinaus in den neonbeleuchteten Kellergang und folgen dem Gewirr von Leitungen, Rohren und Röhren, die sich an der Decke entlangziehen und unter denen auch die Rohrpostleitungen sind, ab und zu biegt ein Rohr ab in die Wand. „Da können Sie ihn schön sehen, den Biegeradius, er hat eine bestimmte Größe, ist eineinhalb Meter, und dieser Radius muss also in jedem Fall eingehalten werden, damit die Büchsen sauber in die Bögen fahren können. Es gibt nur eine Ausnahme, in der Senkrechten, da haben wir einen erweiterten Bogen, ein bisschen größer wegen der Fallgeschwindigkeit. So, und da sehen Sie die Rohre, die zur Küche gehen, und dort der ganze Strang, die 6, die gehen von der Zentrale I zur Zentrale II, und das sind die anderen Linien, die rübergehen zur Inneren Klinik. Dann ist hier noch ein Rohr vorgesehen für die Pathologie. Früher hatten wir auch mal eine Leitung zum Schnellschnittlabor, da wurden dann die Proben hingeschickt, direkt aus dem OP, während der Patient in Narkose auf dem Tisch lag, da musste ganz schnell analysiert werden, ist es Krebs oder nicht. Wenn mal eine Büchse irgendwo fehllief, das war schlimm. Inzwischen sind die Schnellschnittlabore direkt in den OP-Sälen untergebracht, in unmittelbarer Nähe zum Patienten.“ Wir passieren zahlreiche Brandschutztüren und die Großküche, in der Hochbetrieb herrscht. Die Frauen tragen Häubchen wie in Russland. Nun durchqueren wir einen Gang und sind bereits unter dem alten Teil der Charité, passieren eine Weiche, die über 3 Ebenen geht, gelangen dann ins Souterrain und hinauf in die Frauenheilkunde. Der Flur der Pränatalen Forschung ist leer und glänzt. „Wir hatten mal eine Kurzbüchse, die war für Blutproben und Blutkonserven, das wurde aber wieder verworfen, weil das Blut enorm aufschäumte durch die Fahrgeschwindigkeit, und dadurch war es nicht zu gebrauchen. Jetzt werden keine Blutkonserven mehr verschickt.“ Wir betreten die ehemalige Anmeldung, im leeren Zimmer befindet sich die kleine Zentrale, 2 Stockwerke über der Stelle, wo uns die große Weiche gezeigt wird. Herr Voß öffnet den Relaisschrank, zeigt auf die Kontakte und auf farbige, sauber in Bündelchen verlegte und verlötete Kabel. „Das hab’ ich mal gemacht, ist meine Arbeit mal gewesen und das daneben.“ Er zeigt auf ein wirres Durcheinander von Drähten: „ist das Gegenstück. Das hat ein Kollege dann gemacht, und so sollte es eigentlich nicht sein …“

Elisabeth, die sein Werk genauer betrachten will, stellt fest, dass sie ihre Brille drüben in der Hauptzentrale vergessen hat. Herr Voß greift lächelnd zum Telefon: „Bruno, kannst du mal die vergessene Brille auf dem Tisch zu mir schicken … Gut, danke.“ Wir verlassen das Haus. Es ist eines jener fast hundertjährigen, von wildem Wein umrankten roten Backsteingebäude, wie sie hier auf dem Campus überall zu sehen sind. Im Schatten unter einer schönen Buche sitzen Patienten im Gras, Schwalben fliegen geschäftig umher. Am Sauerbruchweg steht ein blaues Fahrrad am Ständer mit der Aufschrift BLUTBOTE. In der Ultraschallabteilung, zu der wir hinauffahren, herrscht reger Betrieb. In einem Dienstraum warten wir vor einem weißen Drahtkorb mit Sandsackeinlage auf die Ankunft unserer Büchse, und tatsächlich schießt sie bald mit Karacho aus der Röhre, wird vom Sack abgepuffert. Die Brille ist unversehrt, fürsorglich in ein Tuch gehüllt. Elisabeth schickt ein Dankesschreiben zurück. „Ziel aktiviert“, sagt Herr Voß, „das hier ist übrigens das Walther-System, sie haben es bemerkt?“ Nun trennen sich unsere Wege vorübergehend bis zum Nachmittag. Wir gehen in die Kantine, und Herr Voß geht noch einigen Aufgaben nach.

Herr Voß wohnt in Werneuchen, südöstlich von Berlin, das wir nach fast zweistündiger Fahrzeit in strapaziösem Pendlerverkehr erreichen. Der ruhige Ort ist umgeben von Feldern und Weiden, hat einen Bahnhof, Geschäfte, Gasthäuser, Parkanlage, Post, Tankstelle. In einem Weg nahe der Bahn liegt das Haus der Familie Voß hinter einer Ligusterhecke mit Bogen. Im Vorgarten stehen hellrosafarbene Rosen, Obstbäume, Schilf, eine Kinderschaukel, seitlich wächst Gemüse. Der einstöckige verklinkerte Neubau hat einen vorgesetzten Wintergarten. Frau Voß heißt uns herzlich willkommen. Sie ist resolut und arbeitet in einem Berliner Kaufhaus, muss also auch die weite Strecke pendeln. Während der Kaffee durch die Maschine läuft, zeigt uns das Ehepaar stolz sein Haus. Es ist innen größer als erwartet, hat acht Zimmer, das Dach ist voll isoliert und geschickt ausgebaut, oben und unten befinden sich gekachelte Bäder, viel helles Holz. Oben ist alles für die Besuche der Kinder und Enkel bereit, unten wohnt und schläft das Paar. Die Küche ist groß und mit dem üblichen Equipment ausgestattet. Auch das Schlafzimmer, mit matrimonialem Bett, ist groß und hell, ebenso das Wohnzimmer mit hoher Schrankwand aus Kirschbaumholz, Sitzgruppe, TV. Oben auf Wandregalen stehen liebevoll aufgereiht die verschiedensten kleinen Sammelstücke, Väschen, Becher, Kännchen, sowohl aus Steingut als auch aus Glas. Herr Voß, so erfahren wir, hat bis auf Heizung, Verklinkerung, Fenstereinbau und den Fertigwintergarten alles hier selbst auf- und ausgebaut; inklusive Elektrik natürlich, das ist ja ohnehin sein Fachgebiet. Gattin, Freunde und Verwandte, alle haben mitgeholfen, damit von 1994 bis 2002 ein ansehnliches und großzügig geschnittenes Heim entstand. 1987 hat Herr Voß das Grundstück erworben, 1989 einen Bungalow zum Datschengebrauch errichtet und später um diesen Bungalow herum dann das Haus aufgebaut, um beim Bau eine Unterkunft zu haben. Erst am Ende der Rohbauphase wurde innen der Bungalow Stück für Stück abgetragen. Sicher eine originelle Methode.

Der Kaffeetisch ist im Garten gedeckt, Herr Voß spannt einen Sonnenschirm auf, Frau Voß kredenzt Gebäck und empfiehlt das Nougat, zeigt ein Foto von Kater Moritz, der aus dem Allgäu stammt und kurz darauf leibhaftig erscheint. Tatsächlich ist der grau getigerte Kater so ungewöhnlich groß und schön wie behauptet. Dann kommen Tochter, Schwiegersohn und Enkel. Herr Voß erzählt vom Einbau und Betrieb der Charité-Rohrpost. Es fällt das Wort „Büchsenmoral“.

Gemeint ist“, erklärt Herr Voß, „dass die Nutzer die Büchsen, statt sie zu horten, zurückschicken. Wir haben eine bestimmte Anzahl von Büchsen – so eine Büchse kostet ja 400 bis 500 Euro, die Walther-Büchse 275 Euro – und jede Station hat also eine gewisse Menge eigener Büchsen, mit Büchsennummer, zu ihrer Verfügung. Damit das funktioniert, müssen die Büchsen zurückgeschickt werden. Weil sich aber heute jeder selbst der Nächste ist, wird das nicht mehr gemacht, ankommende Sachen werden nicht gleich erledigt, sondern vom Personal – das ja jetzt auch knapper besetzt ist – auf den Nachmittag verschoben. Wir haben festgestellt, dass fast alle zur selben Zeit verschicken, so zwischen 15 und 17 Uhr, und dafür werden dann natürlich, weil man eine Menge auf einmal braucht, Büchsen gehortet. Es gibt eine regelrechte Büchsensucht. So viele Büchsen könnten wir gar nicht anschaffen, wie da gehortet werden. Manchmal, wenn wir in Schränke gucken, was wir ja an sich nicht dürfen, dann finden wir 20 Büchsen. Die nehmen wir dann raus und schicken sie zurück. Aber das ist natürlich keine Lösung, die Schwester hat so einen Stapel von Zetteln und sagt: Huch!!! Wo sind denn meine Büchsen?! Wir werden dauernd angerufen, schickt uns bitte Büchsen … Wir haben 30 Büchsen in Reserve, die wir natürlich in Notfällen immer eingeben, die kommen auch nicht wieder. Manchmal haben wir nicht eine einzige, das ist natürlich eine riesengroße Katastrophe. Das war mal, das muss man einmal sagen, zu DDR-Zeiten vollkommen anders. Da ist das gut gelaufen. Die Büchsen wurden nach Erhalt zurückgeschickt, und zu einer bestimmten Zeit, so um 15 Uhr, haben die einzelnen Stationen usw. ihre Büchsen zu den Laboren geschickt, damit sie ihre Analysen und Auswertungen dann praktisch da abfordern konnten mit ihrer Büchse. Das wird natürlich nicht mehr gemacht, ist logisch, weil sie ja keine Büchsen mehr haben auf den Stationen, angeblich. Aber wo sind die Büchsen?! Diese Frage verfolgen wir jetzt, stellen eine Analyse her. Ein Kollege sitzt unten in der Zentrale, die Sie gesehen haben, dort kommen ja alle vorbei. Der Kollege vermerkt die Büchsennummer, die Absender und das Ziel. Nur so können wir uns dann ein Bild machen, wie viele Büchsen eigentlich wirklich im Umlauf sind und vor allem: Wer schickt sie nicht mehr weiter? Denn dieses Verhalten behindert ja den ganzen eigentlich von seiner Natur her flüssigen Verkehr, und es verlangsamt die Geschwindigkeit, mit der wir alles verschicken könnten mit unserer Rohrpost.“