Romeo im Plattenbau

In „Ein schnelles Leben“ verlegt Zoë Jenny eine klassische Liebesgeschichte nach Ostdeutschland

Wo so viel falsches Leben ist, da kann das wahre doch eigentlich nicht weit sein

von KOLJA MENSING

Neu ist der Stoff nicht. Bei Ovid kamen Pyramus und Thisbe nicht zueinander, weil ihre Väter es ihnen verboten, bei Shakespeare hießen die star-crossed lovers Romeo und Julia, und bis sich die verfeindeten Familien der Capulets und Montaques 350 Jahre später in der „West Side Story“ in die New Yorker Jugendbanden der Sharks und Jets verwandelt hatten, war die Geschichte von zwei jungen Menschen, die sich nicht lieben dürfen, unzählige Male in Romanen und Theaterstücken verarbeitet worden.

Wenn Zoë Jenny nun zwei jugendliche Liebende aufeinander treffen lässt, zwischen denen familiäre Hindernisse stehen, dann geht sie damit also ein gewisses Risiko ein. Zunächst einmal zieht sie selbst die erste der sprichwörtlichen Schubladen auf, in der Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihre Bücher bekanntlich nur ungern wiederfinden: „Ein schnelles Leben“, so heißt der nunmehr dritte Roman Zoë Jennys, ist eine Romeo-und-Julia-Geschichte.

Der Weg zu weiteren pauschalen Zuschreibungen ist wohl bereitet. Wie in der „West Side Story“ erfolgt die Aktualisierung des alten Stoffs, indem aus familiärem Zwist soziale Differenzen werden: Am Rande einer namenlosen Großstadt, die unschwer als Berlin zu erkennen ist, verliebt sich die junge Türkin Aise in Christian, dessen bester Freund Sigi ausgerechnet ein Neonazi ist! Aises Bruder Zafir verbindet eine tiefe Feindschaft mit Sigi, und so nimmt das Drama seinen Gang: Das heimliche Liebespaar Aise und Christian gerät in eine blutige Auseinandersetzung, die ihren vorläufigen Höhepunkt in einem tragischen Duell findet. Durch diese Verbindung eines klassischen literarischen Konflikts mit einer Wirklichkeit, in der Intoleranz und Gewaltbereitschaft vorherrschen, kommt „Ein schnelles Leben“ der so genannten engagierten Jugendliteratur auf den ersten Blick gefährlich nahe.

– (betretenes Schweigen)

– (zögerlich): „Und das soll der neue Roman von Zoë Jenny sein?“

Schon merkwürdig, wie sehr dieser Schriftstellerin an Missverständnissen gelegen zu sein scheint. In ihrem erfolgreichen Debüt „Das Blütenstaubzimmer“ erzählte die 1974 geborene Zoë Jenny zum Beispiel die Geschichte einer jungen Frau, die unter den Selbstverwirklichungsfantasien ihrer Eltern leidet und Raves besucht – und wunderte sich anschließend, dass ihre Leser in dem Roman eine Abrechnung der Techno-Generation mit den Achtundsechzigern erkennen wollten. Im zweiten Roman „Der Ruf des Muschelhorns“ durchlitt eine andere junge Frau von Gefühlskälte bis zu sexuellem Missbrauch sämtliche Martyrien, die eine moderne Kleinfamilie des gehobenen Mittelstands für ihre weiblichen Angehörigen bereithält. Doch als die Autorin in Interviews darauf angesprochen wurde, wollte sie auf keinen Fall besonders zeitgemäß sein: Familie, erklärte sie, sei schließlich noch nie etwas Heiles gewesen.

Tatsächlich ist es so, dass auch ihr neuer Roman noch eine andere Geschichte zu erzählen hat als die einer deutsch-türkischen East Side Story – auch wenn man große Mühe hat, sich angesichts der zeitgenössischen Inszenierung „Romeo und Julia vor Plattenbauten“ darauf einzulassen. Die Liebesgeschichte zwischen Aise und Christian ist nur der Hintergrund, vor dem Zoë Jenny noch einmal den großen, traurigen Gedanken entwickelt, der sich auch durch ihre anderen beiden Romane zog. „Weißt du, was geschehen würde, wenn man die Trennscheibe entfernen würde?“, wurde die Protagonistin im „Blütenstaubzimmer“ gefragt, als sie ein Aquarium betrachtet, in dem zwei Fische in getrennten Kammern schwimmen: „Auffressen würden sie sich. Gegenseitig umbringen und fressen.“

Diese pessimistische Grundannahme, dass die Annäherung zweier Lebewesen wie einem Naturgesetz zufolge zum Scheitern verurteilt ist, arbeitet Zoë Jenny in ihrem neuen Roman bis in die letzte Konsequenz aus. So trägt Aises Beziehung zu ihrem geliebten älteren Bruder von ihrer ersten gemeinsamen Szene an, als sie morgens im Badezimmer aufeinander treffen, inzestuöse Züge, und in der Rückschau kann sich Aise der Zuneigung ihrer Eltern nur versichern, indem sie sich als kleines Mädchen vor ihnen versteckt und sich mit sadistischer Freude an ihren Verlustängsten weidet. Sprachlich kleidet Zoë Jenny das Motiv in zahlreiche Bilder, so lange, bis die Grenze zum Kitsch erreicht ist: „Es gibt eine Art von Liebe“, erfährt Aise von der Haushälterin ihrer Eltern, „die ist wie ein Nachtfalter, der sich ins Licht stürzt und verbrennt.“

In einer Tragödie sind die Liebe und auch das Leben zum Scheitern verurteilt, und gerade dass Aise daran nicht glauben will, macht sie natürlich erst zu einer tragischen Heldin: „Es gibt kein Gesetz, dass man sterben muss, bevor man angefangen hat zu leben“, denkt sie am Anfang noch. Merkwürdigerweise ist es gerade die keinesfalls tragische, sondern höchstens reichlich armselige Wirklichkeit des deutschen bzw. ostdeutschen Alltags, die den Leser in der gleichen Sicherheit wiegen. Wo so viel falsches Leben ist, da kann das wahre doch nicht weit sein – das ist die Illusion, die Zoë Jenny mit ihrem scheinbar aufgesetzten Zeitkolorit nährt.

Man erliegt dieser Illusion, obwohl die fallende Linie durch die literarische Tradition schon deutlich vorgezeichnet war. Es ist schließlich wohlbekannt, das Ende, zu dem Pyramus und Thisbe, Romeo und Julia und all die anderen tragischen Liebespaare der Weltliteratur gefunden haben. Dass es einen trotzdem überraschend trifft, als am Schluss eine gewaltige Schlammlawine fernab ihrer Heimatstadt die Liebenden mit sich reißt, während das Leben in Ostdeutschland genauso wie in Westdeutschland und überall sonst in all seiner Erbärmlichkeit und Dürftigkeit natürlich weitergeht – dieser eine Moment rettet den ganzen Roman.

Es ist allerdings wirklich eine Rettung in letzter Minute.

Zoë Jenny: „Ein schnelles Leben“. Aufbau, Berlin 2002. 142 Seiten, 17,50 €