Softies an der Macht

Die Intellektuellen in den Wochen des Wahlkampfs: Große Leidenschaftlichkeit kommt nicht auf. Zum Aufreger gerät allein Schröders Mythologisierung der Mitte. Und was, verdammt, waren noch mal die Berliner Republik und das rot-grüne Projekt?

Rhetorische Weichspülungen:Es fehlt ein Partner fürs scharfe Denken

von DIRK KNIPPHALS

Doch, doch, sie polemisieren noch. Wer in diesen Wahlkampfwochen bei den Damen und Herren Intellektuellen anruft, kann durchaus auf Lust an der Kritik, auf scharfe Analysen der Regierungspolitik sowie auf kluge Abschätzungen von deren Folgen stoßen – mithin auf alles, was man von dieser streitlustigen Zunft erwarten darf.

Allerdings werden diese Erwartungen derzeit vor allem von etwa vierzigjährigen Intellektuellen erfüllt. Das hat einen simplen Grund: Es ist eigene Betroffenheit, die ihr Denken befeuert; der Vorstoß von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, die Zeit für Promotion und Habilitation auf zwölf Jahre zu begrenzen, ist noch immer nicht verarbeitet. Kein Wunder. Immerhin erscheinen nun die Karrierewege einer ganzen Generation von Nachwuchswissenschaftlern erheblich erschwert. So reihen sich denn die Intellektuellen dieser Generation in die lange Reihe jener Interessengruppen ein, die gekommen sind, um sich zu beschweren.

Paul Nolte, Historiker in Bremen, schwang sich neulich in der FAZ gar zu einer Streitschrift auf, in der er der rot-grünen Bundesregierung gleich mit totalem intellektuellen Liebesentzug drohte. Wie es sich für eine Polemik gehört, verlängerte er die Klage übers schlechte Hochschulrahmengesetz ins Allgemeine: „Wir haben uns getäuscht. Diese Bundesregierung atmet kein Diskursklima. In ihr herrscht vielmehr die Mentalität einer völlig unakademischen, ja unbürgerlichen Intelligenz von Sozialaufsteigern vor, denen alles Intellektuelle im Grunde immer schon fremd, suspekt und weltfern erschien.“ Sozialaufsteiger! Da war jemand ziemlich sauer.

Eine solche Leidenschaftlichkeit ist in diesem Wahlkampf allerdings bislang die Ausnahme geblieben. Da mag Joschka Fischer noch so sehr trommeln, dass in diesem Herbst eine erneute gesellschaftliche Richtungsentscheidung anstehe, die Künstler, Soziologen und Essayisten dieser Republik bleiben seltsam reserviert. Bevor man jemanden findet, der wirklich freudig bereit ist, die rot-grüne Sache noch zu seiner eigenen Sache zu machen, muss man lange suchen. Aussicht auf Erfolg verspricht diesbezüglich wohl nur eine Anfrage bei alten Kämpen wie Klaus Staeck. Aber es zeichnet sich eben auch keine geschlossene Front gegen Rot-Grün ab. Wenn man sich ansieht, was aus den großen Erzählungen geworden ist, die mit dem Regierungswechsel vor vier Jahren verbunden wurden, wird man sich schon fragen können: Warum eigentlich nicht?

Das rot-grüne Projekt, um mit dem Abgehangensten anzufangen, vertritt jedenfalls niemand mehr. In Frage steht höchstens noch, was darüber in die Geschichtsbücher aufgenommen wird – ob es gescheitert ist (Bettina Gaus in dieser Zeitung: Das rot-grüne Projekt „wurde von seinen eigenen Protagonisten gründlicher entzaubert, als seine Gegner das jemals vermocht hätten“). Oder ob, wie etwa Thomas E. Schmidt in der Zeit meinte, die Koalition aus SPD und Grünen ihre Hausaufgaben in Sachen Einwanderungsrecht, Gesellschaftspolitik und Westbindung tatsächlich „erledigt“ habe.

Wie dem auch sei, große Zukunftserwartungen an Rot-Grün hegt kaum noch jemand; da können noch so viele Flüsse über die Deiche schwappen und zumindest in Sachen Ökologie Rückenwind geben. Als Mainstream darf die Interpretation gelten, dass die umgesetzten gesellschaftspolitischen Reformen – etwa bei der Homoehe oder der Staatsbürgerschaft – allein nachholenden Charakter hatten und die Politik an einen Stand anpassten, der in der Bevölkerung schon längst erreicht war. Große intellektuelle Strahlkraft für die kommenden vier Jahre ergibt sich daraus keineswegs.

Fast noch mehr elektrisiert wurden die großen Geister vor vier Jahren durch die schlichte Tatsache, dass unsere Republik von nun an über einen Kulturstaatsminister verfügte. Endlich hatten die Intellektuellen mal wieder einen der Ihren auf der Regierungsbank platziert; das war ja fast wie zu Willy Brandts seligen Zeiten. Von dieser Aufregung ist wenig geblieben. Dabei wäre es unfair, diese Ernüchterung an dem Wechsel vom großen Zampano Michael Naumann zum Kärrnerarbeiter Julian Nida-Rümelin festzumachen. Auch Naumann hätte die übergroße Aufmerksamkeit, die der Kulturpolitik geschenkt wurde, nicht länger aufrechterhalten können. Die Kulturpolitik verlor sich gleichsam naturwüchsig im Dickicht von Finanzierungsquerelen und Länder-Bund-Konflikten – und die Aura, die sie im Herbst 1998 umgeben hatte, ging dahin. Die Erwartungen an sie waren schlicht zu hoch gewesen.

Etwas hat der Berufswechsel Michael Naumanns vom Quasiminister zum Journalisten allerdings schon bewirkt, zumal wenn man den viel gewichtigeren Rücktritt Oskar Lafontaines hinzunimmt: Beide Schritte bedeuteten einen Substanzverlust an Positionen, an denen sich Intellektuelle abarbeiten konnten. Im Grunde blieben danach bei der Regierung nur noch zwei intellektuell interessante Haltungen übrig. Da wäre zum einen der fortgesetzte Wille der Grünen zur eigenen Normalisierung. Ihren Niederschlag fand das in der Debatte um Joschka Fischers frühe Jahre – die allerdings in ihren letzten Verästelungen nur die Alterskohorte der Altachtundsechziger interessierte und diejenigen, die denen schon immer eins auswischen wollten. Wobei, dies nebenbei, Letzteres als Antriebskraft innerhalb der intellektuellen Auseinandersetzungen nicht zu unterschätzen ist. Die zweite Haltung ist die auf pragmatisch-konsensuales Krisenmanagement orientierte Politikauffassung von Gerhard Schröder selbst, von ihm gerne eingebunden in eine werbende Rhetorik der Mitte.

Gerade dies hat den Anlass gegeben zu einem der wenigen intellektuellen Vorstöße gegen die Verfasstheit der gegenwärtigen Politik, die neben Paul Noltes Polemik zu registrieren sind. Im Juli-Heft der Zeitschrift Merkur hat Karl Heinz Bohrer noch einmal seine Thesen vom Provinzialismus und der Weicheihaftigkeit unseres herrschenden Staatsverständnisses zusammengefasst und auf die gegenwärtige Lage zugespitzt: Die Konsensideologie ist für ihn „der Krebs […], der am deutschen Gemeinwesen frisst“. Und Richard Herzinger wendet sich in derselben Ausgabe gegen die Mythisierung der Mitte; ihre Beschwörung lenkt für ihn nur ab von den tatsächlichen Problemen einer längst nicht mehr homogenen und von Volksparteien nicht mehr restlos repräsentierbaren Gesellschaft: „Unter der Nebelwolke schöner, einlullender Worte, so die Hoffnung der Macher, hält man sich alle Optionen offen und kann dann jeweils von Fall zu Fall entscheiden, wie man politisch weiterwursteln will.“ Alles Softies, die an der Macht!

Sowohl Bohrers als auch Herzingers Vorstoß ist nicht allein auf die rot-grüne Regierung beziehbar; sie wenden sich gegen das politische Establishment im Ganzen und seine Neigung, gesellschaftliche Konflikte „rhetorisch weichzuspülen“ (Herzinger). Gerade Herzingers Aufsatz zeigt aber, warum die Regierung auch in den ihr eigentlich zugeneigten Kreisen keine rechte Leidenschaftlichkeit entfacht. Man sieht sich in seinen Bemühungen ums scharfe Denken nicht anerkannt. Gleichzeitig sucht man in ihr vergeblich nach einem Partner fürs intellektuelle Geschäft, in dem es schließlich nicht um die Benennung von Konsensen, sondern von Dissensen geht und um das Durchdenken von Konflikten. Hier ist das fehlende Diskursklima, das Paul Nolte beklagte, anzusiedeln. Aber liegt das wirklich nur an den Politikern?

Ein innerhalb der vergangenen vier Jahre grau gewordenes Projekt haben wir noch: die Berliner Republik. Was immer um die letzte Bundestagswahl herum mit dieser Wendung verbunden wurde, wirkt schal – zerschellt an den Beharrungskräften des bundesrepublikanischen Konsensmodells, zerrieben von der töffeligen, nicht auf einen Nenner zu bringende Realität unserer Hauptstadt. Dies freilich ist der gegenwärtigen Bundesregierung kaum anzukreiden. Die Berliner Republik war primär kein Regierungsprojekt. Es war ein Intellektuellenprojekt. Vielleicht kann man dann auch mal den Fehler bei sich selbst suchen? Heinz Bude jedenfalls, dessen Name mit der Ausrufung dieses Projekts eng verbunden ist, hat kürzlich in einem fulminanten Interview in der FR nicht den Politikern, sondern eben den Intellektuellen Versagen vorgeworfen.

Wichtig sind hier zwei Schritte. Erster Schritt: Was das Erkennen der gegenwärtigen Probleme betrifft, so ist für Bude „die politische auf die intellektuelle Klasse angewiesen“. Zweiter Schritt: Nur werden die Intellektuellen dieser Aufgabe derzeit nicht gerecht. Bude: „Unsere Intellektuellen verweigern sich der Arbeit an einem neuen Design für die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert. Sie haben sich entweder einem Tugendwächtertum verschrieben oder sich auf eine reine Beobachterposition zurückgezogen.“

Man muss den etwas marktschreierischen Sound dieser Aussage nicht mögen. In der Sache vertritt Bude eine Position, die er ganz und gar nicht exklusiv hat. Mit Tugendwächtern meint Bude jene kritischen Kader, die gerne zum Alarmismus neigen. Mit „Beobachtern“ zielt er auf jene systemtheoretisch orientierten Gleichmütigen, für die Engagement ein allenfalls zu untersuchendes Thema ist, aber keinesfalls eine zu praktizierende Tätigkeit. Und beide Gruppen machen es für Bude der Flakhelfergeneration um Günter Grass viel zu leicht, immer noch die Themen zu dominieren.

Vielleicht sollte man dieser Spur folgen, um die seltsame intellektuelle Gedämpftheit dieses Wahlkampfes zu erklären. Gerhard Schröder ist ein Kanzler, der, ohne groß zu glänzen, hohe Sympathiewerte verbucht. Edmund Stoiber ist keine verheißungsvolle Alternative. Positionen im Spektrum des Linksaußen sind nicht jedermanns Sache. All dies zusammengenommen bremst schon mal den intellektuellen Einsatz. Und es kommt noch etwas Weiteres hinzu: In Sachen Diskursklima könnten derzeit auch die Intellektuellen glänzender dastehen.