Altersloser Elan

Glänzend eingespieltes Senioren-Ensemble: Das Tanztheater Wuppertal gastierte mit Pina Bauschs „Kontakthof“-Neufassung auf Kampnagel

von MARGA WOLFF

Deutschland in den 50er Jahren: Pina Bausch zeichnete auf Kampnagel gesellschaftliche Stimmungsbilder, die bis heute nachwirken. Ihr Kontakthof betritt ein sprödes Nachkriegsterrain deutscher kleinstädtischer Befindlichkeit. 1978, bei der Uraufführung des Stücks mit dem Tanztheater Wuppertal, war es ein junges Ensemble, das seiner Elterngeneration mit ihrer hilflosen Prüderie, Schlagerseligkeit und der Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen, den Spiegel vorhielt.

In der Neufassung mit Menschen aus Wuppertal ab 65 Jahren sind es nun jene Eltern, die auf der Bühne stehen. Und wie sie sich, allesamt tänzerische Laien, in dieses Abenteuer werfen, das stimmt versöhnlich und fordert Respekt. Vor allem aber zeigt sich die Qualität und Kraft des Stücks: Kontakthof hat das Zeug zum Klassiker des deutschen Tanztheaters. Pina Bausch, die Gastwirtstochter aus Solingen, die als Kind so gern unter einem Tisch in der elterlichen Kneipe gelegen und die Gäste beobachtet hatte, hat hier dem Volk durch Maul und Körper bis auf den Grund einer verloren geglaubten Seele geschaut.

Kontakthof nannte man die Plätze, an denen Prostituierte ihre Körper ihren Freiern feilboten. Bausch verlegt den Ort von Anbiederung und Fleischbeschau in den gesellschaftsfähigeren Tanzsaal. Stühle sind an der Rückwand aufgereiht, auf denen die 26 Darsteller Platz nehmen, 14 Frauen und zwölf Männer, darunter drei Ehepaare. Kurz zuvor sind sie plötzlich in den Saal hineingeschneit, voller Elan, die Männer in Anzügen, die Frauen auf Stöckelschuhen und in eleganten Cocktailkleidern aus Satin, da glaubt man nicht, dass ein Großteil von ihnen die 70 bereits überschritten hat. Dieser Eindruck hält sich über das gesamte Stück – und das dauert, mit kurzer Pause, drei Stunden.

An der Choreographie wurde nichts verändert. Der strenge Bau des Stücks, die Wiederholungen, die Zeit, die jeder Auftritt für sich beansprucht, gibt den Darstellern Raum für ihr Spiel, das bei aller Komik nie zum Klamauk verkommt. Anfangs zuckt man noch zusammen, wenn jemand – choreographisch bedingt – stürzt. Doch am Boden bricht durch die gezierte Förmlichkeit eine alterslose Menschlichkeit hindurch, die manchmal anrührend wirkt, nie hilflos.

Persönliche Bekenntnisse gehören in Bauschs Tanztheater wie das Salz in die Suppe. Da erzählen die Akteure vom ersten Aufgerissenwerden und von Liebesbezeugungen zwischen Eissalon und Schwebebahn. Ein paar Sätze nur, anekdotenhaft, bis das Mikrophon dem Nächsten vor den Mund gehalten wird. Wunderbar gehen sie dann wieder in den kleinen Gemeinheiten und empfindlichen Schlägen auf, die Mann und Frau sich anstelle von Liebkosungen zufügen. Die Männer grabschen plump, die Frauen wehren angewidert ab – ein witziger Tanz wird daraus, wenn beide Seiten entsprechende Gesten ausführen, sich dabei Stück für Stück aufeinander zu bewegen, bis ihre Körper und Glieder schließlich ineinander greifen.

Immer wieder stellen sich Mann und Frau kokett vor das Publikum, drehen und wenden sich frech, aufreizend, Zustimmung erheischend. Dann weiß man nicht, ob die Blicke dem Zuschauer oder einem imaginären Spiegelbild gelten. Souverän und mit bemerkenswerter Subtilität wird hier gespielt. Lustvoll und derb geht es dann wiederum zu, wenn die Männer die Frauen durch die Luft schwenken, wie es einer von ihnen mit der aufblasbaren Sexpuppe vorgemacht hat. Die Frauen vergnügen sich lieber dezent auf einem mechanisch hoppelnden Pferdchen, erbetteln die 20 Cent dafür verstohlen aus der vorderen Publikumsreihe.

Zu einer glänzend eingespielten Truppe hat sich das Senioren-Ensemble entwickelt. Doch nun soll das Abenteuer zu Ende sein. Auf Kampnagel fand diese Kontakthof-Version zum letzten Mal in Deutschland statt. Den Wuppertalern aber hat Pina Bausch mit dieser Inszenierung wohl ihr schönstes Geschenk gemacht.