Genug Luft für ein neues Leben

Lidokino (6): Die ostasiatischen Filme in Venedig handeln viel von Krankheit und Tod. Rüstzeug für die letzten Dinge

Selbst wenn man sich häufig Filme aus Ostasien anschaut, bleibt doch immer wieder ein Rätsel zurück. Die Lektüre der Zeichen funktioniert weniger reibungslos als beim Betrachten eines europäischen Spielfilms. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn man jahrelang Filme aus China, Japan, Taiwan und Korea gesehen hat, weiß man zwar allmählich, dass Fischen eine große Symbolkraft zu Eigen ist und daher Filme, in denen Fischen Böses widerfährt, an ein Tabu rühren. Aber kann man sich dessen ganz gewiss sein? Wenn die Zeichen im europäischen und US-amerikanischen Film wirbeln dürfen, warum sollen sie dann im ostasiatischen starr sein?

Dem ästhetischen Genuss stehen solche Gedanken nicht im Wege. Zumal wenn man es hält wie der Aikidi-Meister Samako (Rie Tomosaka) in Daisuke Tengans Film „Aiki“: Etwas abzulehnen, sagt der, sei einfacher, als etwas zu akzeptieren. Und noch schwieriger sei es, seinen Gegner zu überwinden, indem man ihn Teil seiner selbst werden lässt. Vielleicht wäre das eine Hausaufgabe für die Filmkritik: Man widme „Nackt“, dem Wettbewerbsbeitrag Doris Dörries, eine Aikido-Kritik. Vermutlich muss man dafür so hart trainieren wie für den schwarzen Gürtel.

Aber zurück zu den ostasiatischen Filmen der Mostra. Die meisten von ihnen wählen ein großes Thema: Krankheit und Tod. Der japanische Film „Aiki“ erzählt dabei noch die einfachste Geschichte: Taichi (Haruhiko Kato), ein junger Boxer, hat einen schweren Unfall. Als er zu Bewusstsein kommt, ist er querschnittsgelähmt. Unfähig, seinen Zustand zu akzeptieren, wird er zu einem Arschloch, er vergraust seine Freunde, die sich bereitwillig von ihm abwenden, und möchte nicht weiterleben. Aus dieser Sackgasse findet er heraus, indem er beginnt, Aikido zu trainieren. Der Rest kommt von allein: ein Job, eine Freundin, Freundschaften und extra-starke Viagrapillen. „Aiki“ beschreibt eine Entwicklung, deren Richtung gegenläufig zu der der übrigen Filme ist.

Etwa zu „A Snake of June“ von Shinya Tsuikamoto, einem Film über Krebs und Sex, der sich ins Phantasmagorische weitet, oder zu „The Best of Times“ von Chang Tso-chi. Der taiwanesische Wettbewerbsbeitrag erzählt eine schöne, ruhige Geschichte zweier Cousins. Ohne dass sie wissen, wie ihnen geschieht, geraten die jungen Männer in den Besitz einer Pistole. Weil sie sie benutzen, haben sie viel Ärger am Hals, tödlichen Ärger. „The Best of Times“ kombiniert dabei die schnelle Dramaturgie der Gewalt mit der melancholischen des nahen Todes. Der eine der Cousins, Ah Wei (Wing Fan), hat eine totkranke Zwillingsschwester und rätselhafte Bauchschmerzen, die ihn als Todgeweihten erkennbar machen. Am Ende schwimmen er und Aj Jie (Gao Meng-jie) lange unter Wasser. In ihren Lungen haben sie genug Luft für ein neues Leben.

Schwieriger war „Public Toilet“, eine in der Controcorrente-Reihe gezeigte Koproduktion aus Hongkong und Korea. Der Regisseur, Fruit Chan, gibt sich alle Mühe, die Ekelgrenzen des Publikums zu überschreiten. Aufnahmen aus dem Innern der titelgebenden öffentlichen Toilette stellen in den Schatten, was sich Kim-Ki Duk in „The Isle“ gestattete. Bleibt man trotzdem im Kino, ist man einigermaßen gerüstet für das Kommende. Chan verschränkt die Reflexion über die Exkremente und die über das Sterben zu einer Meditation über die letzten Dinge. In Indien filmt Chan in jener Stadt am Ganges, in der die Toten verbrannt werden und anschließend ihre Asche ins Wasser gegeben wird. Weil das Holz oft nicht reicht, die Leichen ganz zu verbrennen, schwemmen flussaufwärts Körperteile ans Ufer. Chan stellt die Kamera nicht aus, wenn Hunde an diesen Körperteilen fressen.

CRISTINA NORD