Bilder aus Babylon

Lidokino (7): Larry Clark und Ed Lachman haben mit „Ken Park“ einen hochmoralischen Film über Amerika gedreht

Katholische Heilige sind oft sehr sinnlich. Ihre perfekt proportionierten Gesichter sind von Verzückung gezeichnet, und ihre Hingabe an Gott nähert sich umso mehr der sexuellen Hingabe, je weniger Kleider ihren Leib verhüllen. Das Heilige und das Sinnliche zu verschmelzen, das dürfte Larry Clark und Ed Lachman vorgeschwebt haben, als sie gemeinsam „Ken Park“ drehten.

Der Film, gestern in der Controcorrente-Reihe gezeigt, beginnt mit Aplomb: Ein Jugendlicher rollt auf dem Skateboard durch Suburbia. Als er am Skateplatz, einer canyonartigen Landschaft aus Mulden und Anhöhen, ankommt, nimmt er eine Pistole aus seinem Rucksack, hält sie an seine rechte Schläfe wie Takeshi Kitano in „Sonatine“, drückt ab, die Kugel durchbohrt den Kopf und tritt links wieder aus. Dem wütenden Auftakt folgen Episoden aus dem Leben einiger – mit einer Ausnahme männlicher – Jugendlicher in Visalia, einer kalifornischen Kleinstadt. Sie skaten, trinken, rauchen Dope und haben Sex, untereinander, mit der Mutter der Freundin, mit sich selbst, mit dem Halbbruder und beinahe mit dem Vater. Wie in „Kids“, Clarks Debütfilm, schaut sich die Kamera fast alles an, was es dabei zu sehen gibt, Erektionen, zwischen Pobacken eingezwängte, pralle Hoden, vor Erregung starre Brustwarzen. Allein die Nahaufnahme einer Vagina fehlt.

Wegen solcher Bilder hat man Clark einen Pornografen genannt. Aber so einfach verhält es sich nicht, zumindest nicht dann, wenn man voraussetzt, dass Pornografie sexuell erregen will und damit ihren Sinn erfüllt. In „Ken Park“ geht es um eine ganz andere Form der Erregung: Der Film erregt sich über die Erwachsenen, die sich an den Jugendlichen erregen.

Zum Beispiel über Rhonda, die, obwohl ihre Tochter mit Shawn befreundet und sie verheiratet ist, mit Shawn schläft. Über Claudes Vater, der den ganzen Tag über Bier trinkt, fernsieht, Gewichte hebt und seinen Sohn beschimpft. Nachts, wenn der Mann betrunken ist, kommt er Claude allzu nahe. Oder über den bis zum Wahnsinn religiösen Vater von Peaches, die aus dem Südseezyklus Gauguins entstiegen ist. Bei seinem ersten Auftritt beugt er sich mit einer Lupe in der Hand über die Bibel. Eine Nahaufnahme zeigt, was er gerade liest: Verse über die Hure Babylon.

Nun ist die Verkommenheit Babylons nicht weit entfernt von der Verkommenheit Amerikas, die „Ken Park“ zunächst in Szene setzt, um sie alsdann zu beklagen: die Obszönität der Talkshows und Soaps, der silikongespritzten Brüste, der Verschwendung von Talent, Sensibilität und Reinheit in der Hölle der Vorstadt. Dem entgegen stellen die Regisseure die unschuldige Lust ihrer jugendlichen Protagonisten, etwa mit einer langen Sequenz, in der Peaches, Claude und Shawn es miteinander treiben und die zu einer Art von heiliger Orgie wird.

In dieser Opposition ist der Film nicht nur larmoyant, er ist auch hochmoralisch. Darin nun liegt seine Obszönität: Um bestehen zu können, muss er, was er beklagt, erst inszenieren, muss er die Vision des Verkommenen ausmalen genauso wie deren Gegenpart, die Reinheit. So wird er sich selbst in seiner eigenen Fantasie genug, er bettet sich sicher in seine Visionen wie jede hochmoralische Haltung.

Ganz am Ende erfährt man, warum der rothaarige Jugendliche, warum Ken Park sich erschossen hat: Seine Freundin ist schwanger. „Ich will keine Babymörderin werden“, sagt sie, während die beiden auf einer Bank sitzen. Mehr sagt sie nicht, und was mit ihr passiert, lassen Clark und Lachman im Dunkeln. Sie geben ihr ein wirkliches Problem, aber keinen Namen, und sie interessieren sich nicht für sie, vielleicht weil sie nicht gut genug aussieht. CRISTINA NORD