Fluch der Liebenden

Lidokino (8): Takashi Kitano unterbricht mit seinem Bunrako-Melodram „Dolls“ eine Serie von Enttäuschungen bei den Filmfestspielen in Venedig

von CRISTINA NORD

Fast an jedem Tag überrascht der Wettbewerb der Mostra mit einem neuen Desaster. Das mag daran liegen, dass die interessanteren Filme für gewöhnlich am Anfang und am Ende eines Festivals gezeigt werden, damit die Festivalmacher mit Bravour an- und abtreten können. Doch über diese Dramaturgie geht hinaus, was die Mostra an Fragwürdigem versammelt. Es sind vor allem Geschichten von Übersinnlichkeit, von Wahnsinn und untergründiger Religiösität, Geschichten, die nicht nur davon erzählen, dass die Vernunft Grenzen hat, sondern sich diesen Leitsatz auch filmsprachlich zu Eigen machen. Heraus kommt dabei Kitsch der schlechteren Sorte.

Zum Beispiel „Julie Walking Home“: Darin geht es um ein kanadisches Paar, dessen Sohn an Krebs erkrankt. Da die Chemotherapie versagt, reist die Mutter mit ihrem Kind nach Polen, ins Land ihrer Vorfahren. Dort sucht sie einen Heiler auf, der den Sohn von der Krankheit erlöst und sich in die Mutter verliebt. Nicht genug damit, dass die Regisseurin, Agnieszka Holland, ihren Film mit der Last zu vieler Geschichten belädt, man wird außerdem den Eindruck nicht los, dass „Julie Walking Home“ den Katholizismus gegen das Judentum ausspielt, den Glauben gegen die Vernunft, die Kraft des Ursprungs gegen das frei gestaltete Leben. In all diesen Oppositionen setzt sich die irrationale Seite durch. Nach der Pressevorführung in der Sala Palagalileo gab es verdiente Buhrufe.

Nicht besser waren „Un viaggio chiamato amore“ („Eine Reise, die Liebe heißt“) von Michele Placido und „Bear’s Kiss“ von Sergej Brodov. Jener die Geschichte einer Amour fou, ohne Sinn und Verstand erzählt, dieser ein Märchen, in dem sich eine Heranwachsende in ein Wesen verliebt, das zwischen Bären- und Menschengestalt wechseln kann. Bodrov schickt seine Figuren – Zirkusartisten – durch halb Europa und lässt dabei keine Gelegenheit verstreichen, an pittoresken Schauplätzen pittoreske Begebenheiten zu filmen. Besonders hinterhältig ist, dass „Bear’s Kiss“ die bezaubernde Rebecka Liljeberg als Hauptdarstellerin missbraucht, mithin die Schauspielerin, die aus Lukas Moodyssons Debüt „Fucking Åmål“ in so guter Erinnerung ist. (Man könnte an dieser Stelle ins Grübeln geraten: Ist es wirklich nötig, dass eine Darstellerin, die international bekannt wurde, indem sie eine junge Lesbe spielte, als Nächstes eine junge Frau gibt, die sich in einen Bären verliebt?)

Umso erfreulicher ist es, wenn die Serie der Enttäuschungen durch Takeshi Kitanos „Dolls“ unterbrochen wird. Vor fünf Jahren hat Kitano für „Hana-Bi“ („Feuerblume“) den Goldenen Löwen erhalten, damit stand seiner Wertschätzung, bis dato auf japanophile Cineastenzirkel beschränkt, nichts mehr im Wege. Es folgten „Kikujiro“ und „Brother“, und ein Problem deutete sich an: Wie verhindert der Regisseur, dass seine eigenwillige Kombination von Gewalt, Komik und Ruhe nicht zur Masche wird? Kitano findet die Antwort, indem er sich als Darsteller aus „Dolls“ heraushält: „Wenn ich müde bin, spiele ich nicht in meinen Filmen“, sagt er im Presseheft. „Dolls“ tut das gut, war es doch gerade Kitanos Lakonie, die in „Brother“ als Wiederholung ihrer selbst störend wirkte. Der neue Film bezieht sich stattdessen auf die Ästhetik des Bunraku-Puppentheaters, einer Theaterform, die meist von unglücklicher Liebe erzählt, ihren Höhepunkt im 17. Jahrhundert erlebte und vor einigen Jahrzehnten in Tokio reanimiert wurde. Kitano rahmt und verzahnt „Dolls“ mit einem Bunraku-Stück von Monzaemon Chikamatsu, in dem es um die Flucht zweier Liebenden geht. Die beiden Figuren, Sawako und Matsumoto, lässt er von dem Modemacher Yohji Yamamoto in kunstvolle Kleider hüllen, die wiederum die Kimonos der Bunraku-Puppen zitieren. So zieht das Paar durch die Jahreszeiten, vorbei an blühenden Kirschbäumen, in der Sonne schimmernder See, rotem Ahorn und Schneefeldern. An ihre Geschichte knüpfen sich zwei weitere, die eines Yakuzas und die einer Popsängerin, und auch hier geht es um Liebe, der die Erfüllung verwehrt bleibt. Manchmal fallen Schüsse, manchmal spielen die Figuren Kinderspiele, wie man es aus anderen Kitano-Filmen kennt, manchmal stellen sie einander Fallen, ohne es böse zu meinen. Vor allem aber treiben sie, langsam, ruhig und ohne Alternative, ihrem Tod entgegen.