Nach Pisa: Riesa

Das Schulsystem der DDR war dem der Bundesrepublik in vielem überlegen. Ein Plädoyer für die ideologische Entrümpelung der deutschen Bildungspolitik

Die westdeutschenGesamtschulen waren ideologisch begründeteMenschenversuche

Es muss einfach mal gesagt werden: Wäre 1990 im Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR vereinbart worden, dass überall in Deutschland das DDR-Schulsystem gelten solle, hätte Deutschland bei der Pisa-Studie 2001 einen Platz auf dem Siegertreppchen bekommen.

Lassen wir zuerst einmal die nackten Zahlen sprechen: Die Schulkinder der DDR brachten es auf einen durchschnittlichen IQ von 102, die heutigen Schulkinder in der ehemaligen DDR schaffen nur noch 95, genauso viel wie die in den alten Bundesländern. Der Unterschied von sieben IQ-Punkten entspricht, so der Leipziger Intelligenzforscher Volkmar Weiss, einem Unterschied von 47 Punkten in der Pisa-Studie – eine gesamtdeutsche Schülerschaft mit dem Leistungsvermögen der Schüler in der DDR hätte also im Leseverständnis nicht Platz 22, sondern Platz 3 erreicht. Auch in Mathematik (Platz 3) und Naturwissenschaften (Platz 4) hätte diese hypothetische DDR-Schülerschaft in der Spitzengruppe gelegen.

Es mag zwar in weiten Teilen der Republik wie ein Sakrileg klingen, aber es spricht sehr viel dafür, dass die DDR schlicht das bessere Schulsystem hatte als die BRD. Obwohl es von den Ideologen in Ost und West immer als gleichmacherisches Gesamtschulsystem verkauft wurde, handelte es sich faktisch um ein stark differenziertes, dreigliedriges System. Leistungsschwache Schüler konnten die zehnklassige Regelschule nach der achten Klasse verlassen, für die leistungsstärksten Schüler (beziehungsweise für die, die das Regime als solche definierte) gab es noch einmal zwei weitere Schuljahre bis zum Abitur. Die Mär von der Gleichmacherei wurde zwar gerne erzählt, aber die Realität sah anders aus: Der Leipziger Pädagogikprofessor Hans-Georg Mehlhorn hat ermittelt, dass 20 Prozent der Schüler in der DDR mindestens einmal nicht versetzt wurden – obwohl doch eigentlich die ganze Klasse ihren Ehrgeiz daransetzen sollte, auch die schwächsten Schüler mit nach oben zu ziehen.

Zusätzlich war die DDR bei der Begabtenförderung der BRD weit voraus: Flächendeckende Talentsichtungen und viele Spezialschulen halfen, die Entwicklung besonderer Talente zu ermöglichen – ob mathematisch, sprachlich, künstlerisch oder sportlich. Das waren nicht allein die Spartakiaden, also die Sportwettbewerbe, das waren auch landesweit durchgeführte Mathematik-Olympiaden, an denen auch die Schüler der Unterstufe teilnehmen konnten. 14 mathematisch-naturwissenschaftliche Spezialschulen und 8 Einrichtungen für Schüler mit besonderen künstlerischen Begabungen gab es in der DDR. Im Westen gab es nur Sportgymnasien.

Natürlich litt das DDR-Bildungswesen unter der ideologischen Verbohrtheit der SED. Wer den Zugang zu Abitur und Studium an politisches Wohlverhalten und/oder proletarische Herkunft knüpft, produziert damit eine Vielzahl individueller Tragödien und eine Fehlsteuerung knapper Ressourcen. Und natürlich hätte man auch am DDR-System der Elitenförderung noch einiges verbessern können. Insbesondere dann, wenn Kinder wieder aus der Förderung genommen wurden, weil sie doch nicht zum Weltmeister taugten, machte die DDR eine schlechte Figur. Die Ausgesonderten wurden ohne Netz mit dem Makel des Versagens allein gelassen. Aber anstatt ein bestehendes Fördersystem mit mehr Pestalozzi und weniger Darwin zu optimieren, kippte man es weg. Um jetzt, nach Pisa, zu bejammern, dass in Deutschland zu wenig für die Eliten von morgen getan wird. Wenn die westdeutschen Länder auch nur einen Hauch dieser Spezialisierung praktizierten, müsste uns um den Zustand der künftigen Wissenseliten und um die Platzierung im Medaillenspiegel nicht mehr bange sein.

Nur mäßig zugespitzt heißt das: Wenn man vom DDR-Ideal der Erziehung zur allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit das „sozialistisch“ streicht, hat man eine weit fortschrittlichere Grundlage für ein Schulsystem als die westdeutsche Dreigliedrigkeit. Denn die Vorstellung von den handwerkenden Hauptschülern, rechenschiebenden Realschülern und großgelehrten Gymnasiasten beruht auf einer beruflichen Schichtung der Gesellschaft, wie sie eher in frühen Industriegesellschaften anzutreffen ist als in sich entwickelnden Wissensgesellschaften.

Auch da lauert schon wieder ein Sakrileg: Die Gesamtschule besser als das Hauptrealgymnasiumssystem? Hatten nicht bei der Pisa-Studie die Gesamtschüler besonders schlecht abgeschnitten? Die Gesamtschüler in Westdeutschland: ja; die Gesamtschüler in England oder Japan: nein. Und die Gesamtschulen der alten BRD mit denen der DDR in einen Topf zu werfen wäre etwa so wie die Gleichsetzung von Gesamtschulen und Comprehensive Schools. Was in Westdeutschland als Gesamtschule verkauft wurde, waren ideologisch begründete Menschenversuche, für die das Wort „Fehler“ viel zu harmlos ist.

Daraus allerdings zu schließen, wie neulich Konrad Adam in der Welt, dass sich die Gesamtschule „in Deutschland denkbar schlecht bewährt hat“, fasst die Republik denn doch ein wenig eng. So als wäre nichts gewesen, schlägt er munter die jahrzehntealten Schlachten weiter, die das westdeutsche Bildungswesen so hoffnungslos machen. Wohlgemerkt: das westdeutsche.

Das Schulsystem als solches kann natürlich immer nur einen Teil der Leistungen der Schüler erklären. Weit größere Teile machen die Lehrer und die Lehrpläne aus. Da es noch keine Pisa-Studie für Pädagogen gibt, lässt sich deren Qualität nicht systemübergreifend vergleichen. Aber dass die Lehrer in DDR-Zeiten besonders anfällig für die ebenso moderne wie leistungsfeindliche Kuschelpädagogik gewesen wären, werden wohl sogar die hartleibigsten Ossi-Hasser nicht behaupten können. Nicht umsonst galt die DDR als letzter Hort preußischer Tugenden – neben Bayern natürlich.

In Mathematik hätte diese hypothetische DDR-Schülerschaft in der Spitzengruppe gelegen

Bei den Lehrplänen findet im Verborgenen sogar heute noch der Wettbewerb der Systeme statt. Und die DDR gewinnt – zwar nicht in Wehrkunde, aber in Rechtschreibung. Wenn in Ostberlin sämtliche Eltern einer Grundschulklasse heimlich mit der Lehrerin verabreden, dass nach den alten Ost-Lehrplänen unterrichtet werden soll, werden nur unverbesserliche Ideologen wähnen, dass die bestimmt alle PDS wählen. Es sind ganz normale Eltern wie du und ich, die das Beste für ihr Kind wollen. Und es auf diese Weise wahrscheinlich sogar bekommen.

Es mag unrealistisch sein, für ganz Deutschland polytechnische Oberschulen und Spartakiaden zu fordern. Und es ist auch, zugegeben, extrem kompliziert, das durch und durch ideologische Konstrukt der „allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“ zu entideologisieren. Aber es würde ja schon helfen, wenn die altgedienten Retter des deutschen Bildungswesens im Jahre 13 nach dem Mauerfall wenigstens einmal darüber nachdächten, ob aus den neuen Landesteilen nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen kommen könnten.

DETLEF GÜRTLER