Patriot Games, revisited

Lidokino (9): Klagegesänge, Montagen und zärtliche Gesten – die Kurzfilmkompilation „11 09 01 – September 11“ sucht jenseits der medialen Inszenierungen nach anderen Bildern zu den Anschlägen auf das World Trade Center

Es gibt nicht allzu viele Filme im Hauptprogramm der Mostra, die ein Wagnis eingehen. „11 09 01 – September 11“ bildet eine Ausnahme – und ist dafür schon im Vorfeld des Antiamerikanismus bezichtigt worden. Der französische Produzent Alain Brigand hat für die Kurzfilmkompilation elf Regisseure aus elf Ländern gewinnen können, unter ihnen den Ägypter Youssef Chahine, die Inderin Mira Nair, den Japaner Shohei Imamura und den US-Amerikaner Sean Penn. Im Vor- und im Abspann sowie zwischen den Beiträgen sieht man eine Weltkarte und Uhren, deren Zeiger unterschiedliche Zeitzonen markieren: ein Hinweis darauf, dass „11 09 01 – September 11“ die bekannten Fernsehbilder, die erstarrte Ikonografie aus Explosion, Zusammenbruch und grauem Staub mit differenten Wahrnehmungen konfrontieren wird.

Den Filmemachern wurden keine Vorgaben gemacht, nur eine Einschränkung gab es: Ihre Kurzfilme mussten genau elf Minuten, neun Sekunden und eine Einstellung dauern. „11 09 01 – September 11“ versammelt Kontrastmaterial. Zum Beispiel Ken Loachs Film über einen in London lebenden Chilenen und dessen Erinnerungen an Chile in der ersten Hälfte der 70er-Jahre. Loach unterlegt diese Erinnerungen mit Archivmaterial, man sieht, wie der sozialistische Präsident Salvador Allende gewählt wird, wie zukunftstrunken das Land zwischen 1970 und 1973 war, wie der US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger und die CIA an den Putschvorbereitungen mitwirkten. Man sieht Bilder vom Putsch am 11. September 1973 und von dem, was folgte: Verhaftungen, Lager, Folter. An einer Stelle montiert Loach eine Rede Bushs in den Film: Die Anschläge vom 11. September 2001 haben „unserem Volk“ und der Freiheit gegolten. Der Chilene überträgt Bushs Sätze auf Chile und besetzt dabei die Rolle der Schurken mit US-amerikanischen Politikern. In der Montage des Films geht das auf, weil sich Loach der Polemik enthält. Zugleich stört der verklärende Blick, den der britische Regisseur schon häufiger auf Lateinamerika geworfen hat.

Die junge iranische Regisseurin Samira Makhmalbaf hat sich eine komplexere Perspektive zu Eigen gemacht. Als Schauplatz wählt sie ein Dorf in einer Einöde irgendwo im Iran. Afghanische Flüchtlinge leben hier. Man sieht eine Weile, wie Kinder Ziegel herstellen, dann konzentriert sich die Kamera auf eine junge Frau, offenbar die Lehrerin. Sie versucht die Schüler ins Klassenzimmer zu locken: „Bunker aus Ziegeln schützen nicht vor Atombomben“, sagt sie wieder und wieder, und jedes Mal, wenn sie es sagt, weiß man, dass sich die durch die Anschläge ausgelöste Bedrohung vervielfacht und neue Formen angenommen hat. Makhmalbaf bleibt an dieser Stelle nicht stehen. Sie lässt die Lehrerin erklären, was am 11. September geschehen ist. Das ist wie eine zärtliche Geste gegenüber den Opfern der Anschläge, und zugleich ist es ein Hinweis auf die radikale Ungleichzeitigkeit von Entwicklung und Unterentwicklung. Die Schüler haben in ihrer Einbildungskraft keinen Ort, an dem Hochhäuser, Großstädte oder Flugzeuge vorkämen.

Der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu erklärte, ihm sei jede Form der Fiktionalisierung oberfächlich erschienen. Sein Beitrag besteht vornehmlich aus der schwarzen Leinwand. Manchmal lässt er sie aufreißen wie eine Wolkendecke, und man sieht Menschen aus dem World Trade Center stürzen. Unterlegt ist dies mit einer aus Nachrichtensendungen gewonnenen Toncollage und, am Ende, mit dem Klagegesang chiapatekischer Indianerinnen. Er sehe in diesem Gesang eine Gabe, die Wunden dieses Tages zu heilen, sagt González Iñárritu. Das mag kitschig klingen, zeigt aber zugleich, dass Empathie jenseits der patriotischen Einschwörung möglich und nötig ist.CRISTINA NORD