Die erste Vorstellung

Ich weiß nicht, was ich sagen will: Eine Lesung zum Auftakt der Büchersaison im Literarischen Colloquium Berlin

Zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, versucht der Literaturbetrieb in der Vielzahl der Neuerscheinungen das eine große Thema aufzuspüren. Auch das Literarische Colloquium Berlin (LCB) beteiligt sich gern an dieser Suche und lädt traditionell zum „Saisonauftakt“ in seine Räumlichkeiten direkt am Wannsee. Dabei lesen Debütanten und profilierte Autoren aus ihren neuen Büchern, und dabei kommen alle Beteiligten regelmäßig zu der Einsicht, dass das mit den Trends und dem Über-einen-Kamm-Scheren so eine Sache ist. Klappt nie. So gestehen auch an diesem lauschigen Freitagabend die Moderatoren Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, dass sie kaum Hinweise auf Gemeinsamkeiten der fünf von ihnen vorgestellten Bücher gefunden hätten, etwa eine alles überlagernde neue Ernsthaftigkeit (11. 9.!) oder die Rückkehr der Innerlichkeit. Im Gegenteil, viel leichter sei es ihnen gefallen, Unterschiede zu finden, vor allem in den Schreibweisen.

Allein in den Biografien der vier Autoren und einen Autorin aber entspannt sich ein weites Feld: zwischen dem einstigen Ostberliner Bauarbeiter Andreas Gläser, der gebürtigen Schwäbin und Hörspielautorin Nina Jäckle und dem Physiker und „Aspekte“-Literaturpreisträger Ulrich Woelk; zwischen dem Debütanten und Multiberufler Gregor Sander (Schlosser, Krankenpfleger, Student der Medizin und Geschichte, Absolvent einer Journalistenschule) und dem Langsamschreiber und Multiberufler Christoph D. Brümme (drei Romane in zehn Jahren, gelernter Eisenbahner und Schauspieler).

Sie alle sind in den Sechzigerjahren geboren, doch reichen drei Jahre Altersunterschied, um unterschiedlichsten Generationen zugerechnet zu werden; und sie alle wohnen in Berlin, was aber auch nichts heißt, wie man allein am Auftritt von Andreas Gläser bemerken konnte. Sosehr auch gelacht wurde über seine Geschichte aus dem Brigadenleben eines Tiefbaufacharbeiters, so sehr wurde man den Eindruck nicht los, dass der rustikale, schnoddrige Lesebühnenautor und das beflissene Publikum des LCB keine gute Verbindung ergeben. Und dass der BFC Dynamo und das Literaturhaus am Wannsee eben doch zwei sehr verschiedene Welten sind.

Nina Jäckle und Gregor Sander passten besser. Bei ihren Lesungen breiteten sich eine angespannte Ruhe und Anflüge von Schwermut in dem nüchternen Leseraum aus. Sowohl Jäckles Erzählungen „Es gibt solche“ als auch Gregor Sanders „Ich bin hier geboren“ leben von ihrer eigentümlichen Atmosphäre; über ihnen liegt ein melancholischer Grauschleier, der sich auch nach der Lektüre nicht so schnell auflöst. Einig waren sich beide in der Abwehr aufdringlicher Interpretationen. Jäckle bekundete, ihre Geschichten „schwer erzählbar“ zu finden, und Sander wusste klugerweise wenig zu sagen, als er mit der Klappentextphrase vom „Porträt der heutigen Zeit“ konfrontiert wurde.

Überhaupt fiel auf, wie schwer sich alle Autoren taten, ihre Arbeiten eingehender zu analysieren. Gläser sagte bloß: „Ich fühle mich sehr wohl“, als Heibert ihn fragte, wie es nach dreizehn Jahren Wiedervereinigung sei, noch immer in die DDR reinzuschreiben; Christoph Brumme antwortete auf die Frage nach den Lehren seiner anstrengenden Liebesgeschichte „Süchtig nach Lügen“: „Keine“. Oder auch: „Ich weiß nicht, was ich sagen will“; nur Ulrich Woelk, als Großschriftsteller in spe erfahren im Umgang mit bohrenden Nachfragen, erläuterte präzise, wie sein neuer Roman „Die letzte Vorstellung“ auf der Folie eines Kriminalromans eine zeitgemäße Geschichte zu entwickeln versucht, die sich aus der spannungsgeladenen Zusammenarbeit eines westdeutschen Polizisten mit einer jungen, in der DDR sozialisierten BKA-Beamtin konstituiert.

Ausgehend vom Mord an einem ehemaligen RAF-Terroristen, der in der DDR unterschlüpft und aussteigt, erzählt Woelk vor dem Hintergrund von RAF und Stasi von individuellen Verstrickungen und der Macht von Ideologien auf einzelne Lebensentwürfe. Das Buch ist reif in der Anlage und hat Großes vor; früher hätte man gesagt: ein deutsch-deutscher Roman, ein deutscher Zeitroman. Es schwächelt aber in den hölzern wirkenden Dialogen. Jede neue Figur, auf die das Ermittlergespann trifft, ob Stasispitzel, autonomer Informant oder Lifestyle-Journalist, erklärt lang, breit und pamphletistisch sein Weltbild, was sich dann meist wie ein gut vorbereitetes Bewerbungsgespräch beim Autor liest.

Ulrich Woelk jedoch erklärte im LCB, gerade weil es in „Die letzte Vorstellung“ so viel um „Schuld und Schuldigwerden“ gehe und um ostdeutsche Befindlichkeiten, die er als Kölner naturgemäß nicht am eigenen Leib erfahren habe, sich als Autor „rausgehalten“ zu haben: „Ich erzähle eine Geschichte. Den Rest überlasse ich dem Leser.“

GERRIT BARTELS