Im Spiegel für immer

Nur keine Griesgrämigkeit! Allerdings: Die Wettbewerbsbeiträge bei den Filmfestspielen in Venedig haben es schon schwer, gegen die Klassiker in der Michelangelo-Antonioni-Retrospektive zu bestehen

von CRISTINA NORD

Michelangelo Antonioni wird am 29. September 90 Jahre alt. Die Mostra hat ihm daher in diesem Jahr die Retrospektive gewidmet. Sein gesamtes Oeuvre – von den Dokumentarfilmen der Vierzigerjahre bis zu der Gemeinschaftsarbeit „Al di là delle nuvole“ („Jenseits der Wolken“) aus dem Jahre 1995 – wurde in restaurierten Kopien gezeigt. Das zeitigte verschiedene Antonioni- Effekte.

Am Anfang schien es noch, als werde der folgende Kurzdialog zum Running Gag des Festivals: „Warst du schon bei Antonioni?“ – „Ich würde ja gerne, aber ich komme nicht dazu.“ Aber es dauerte nicht lange, und die Kritiker merkten, dass die Retrospektive vor Verdruss schützte. Wen der Wettbewerb enttäuschte, dem bot der Abstecher in die kleine Sala Volpi das Antidot. Ein Kollege aus der Schweiz sagte: Schon die Gewissheit, die Filme sehen zu können, die bloße Möglichkeit hätten etwas Beruhigendes.

Was dazu führte, dass es die übrigen Filme noch schwerer hatten: Wer mag sich mit Doris Dörries „Nackt“ anfreunden, wenn er zuvor Antonionis „La Notte“ („Die Nacht“, 1961) gesehen hat?

Wie kann das Beziehungsgeplänkel des deutschen Wettbewerbsbeitrags für sich einnehmen, was kann das Gerede der drei Paare am Abendbrottisch bedeuten, nachdem man Jeanne Moreau beobachtet hat? Wie sie durch eine Villa streift, in der eine Party stattfindet, durch den Garten, am Pool entlang, an den anderen Gästen vorbei: Es scheint sie nichts anzugehen, sie ist eine Fremde, sich selbst so fern wie den anderen. Trotzdem bleibt sie lange, und wenn sie aufbricht, so nur, um bald wieder zurückzukehren. Dabei wird eines sehr deutlich. Um zu filmischer Klarheit zu gelangen, bedarf es keiner geradlinigen Handlung, eher schon des Mutes, Leerlauf, Stille und Ambivalenz auszuhalten.

Nun ist es gar nicht nötig, in die in ihrer Reflexhaftigkeit vorhersehbare Schelte des deutschen Films einzustimmen. Anderen Filmemachern gelingt es genauso wenig, Geschichten von Entfremdung zu entwickeln – Geschichten, in denen eine Figur dem oder der Geliebten, sich selbst und der Welt fremd wird. Agnieszka Hollands „Julie Walking Home“ ist ein Beispiel dafür, wie leichtfertig die Regie ihre Figuren an Dramatisierung, Handlung und Zuspitzung ausliefert. Weil ständig etwas geschehen muss, erfährt und sieht man nichts.

Antonioni hingegen legt die Entfremdung eines Paares in eine einzige Einstellung: An einer Stelle von „Identificazione di una donna“ („Identifikation einer Frau“, 1982) sieht man Ida (Christine Boisson) und Niccolò (Tomas Milian), doch ihn nur als Reflexion in einem Spiegel und daher seitenverkehrt. Man ahnt, dass sein Blick die andere Figur sucht, die Kamera freilich zeigt, weil sich im Spiegel die Richtung ändert, das Gegenteil davon, den abgewandten Blick.

Ein weiterer Antonioni-Effekt besteht darin, dass man bald merkt, wie unfair und irreführend die Vergleiche sind. Denn man gerät dabei in stumpfe Nostalgie, und gibt es etwas Dümmeres, als zu sagen, dass früher alles besser war? Außerdem ist Griesgrämigkeit einem Filmfestival nicht angemessen und der Schönheit Venedigs noch weniger.

Von der zehrt auch Antonioni, auf seine spezielle Weise: Wenn in „Profession: Reporter“ („Beruf: Reporter“, 1974) kurz eine Postkarte ins Bild rückt, die den Campanile an der Piazza San Marco zeigt, wenn Ida und Niccolò in „Identificazione di una donna“ durch die Lagune rudern, oder wenn in „La signora senza camelie“ (1953) die Figuren – Filmschaffende – zu den Filmfestspielen anreisen. Dann sitzt man im Palazzo del Cinema, schaut sich auf der Leinwand den Palazzo del Cinema an und möchte für immer in dieser Spiegelung bleiben.