theorie und technik
: Mieke Bal bringt Kunst aus dem Gleichgewicht

Hermeneutische Glücksmomente

Wenn die Documenta11 in diesen Tagen ausläuft, ist die wichtigste Frage noch immer nicht beantwortet: Haben Okwui Enwezor und sein Kompetenzteam eine ausgewogene Balance zwischen Innovation und konjunktureller Nachfrage gefunden? Bei der Nominierung des Nigerianers als Kassel-Kandidat hatten bekanntlich viele Experten vor einer zu starken Politisierung und mangelnder Volksnähe gewarnt. Doch bereits vor Ablauf der ersten hundert Tage machte das Fachblatt art dann doch eher zu viel Konsensliebe aus und nörgelte: „Wo bleiben die Zumutungen?“

Die Frage ist symptomatisch. Aus der gelangweilten Position des globalen Kunstmarktcheckers, der schon alles gesehen hat und schon deshalb nichts Neues mehr sehen kann, stellen sich die hermeneutischen Glücksmomente von totalem Unverständnis, heftiger Ablehnung oder gar Ekel immer schwieriger ein. Fast scheint es, als fehle heute der Schock des ganz anderen, den man sich früher zumindest noch eingestehen konnte. Eine Iranerin hüllt Gegenstände in schwarzes Pigment, ein Portugiese streut Kaffee auf den Boden, ein deutsches Paar inventarisiert Fachwerkhäuser – wer deutet die Zeichen, kennt die Motive, weiß um die Hintergründe? Man muss schon allen Mut zusammennehmen, um auf den so offensichtlichen Umstand hinzuweisen, dass die Documenta gerade deshalb ein echtes Ereignis ist, weil sie die verschiedensten Kontexte aufeinander prallen lässt und Fragen nach deren individueller und interkultureller Übersetzbarkeit aufwirft.

Kürzlich sind zwei Bücher erschienen, mit denen man diesen Fragen nachgehen kann. Für den indischen Philosophen Ram Adhar Mall ist Interkulturalität entgegen allen Unkenrufen mehr als ein „trendiger Ausdruck“. Im neuesten Band der Innovationen-Reihe des Züricher Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst (ith) argumentiert Mall für eine „Ästhetik von unten“, die „zwischen der Tendenz zur Homogenisierung und der zum Negieren jeglichen kulturellen Musters hindurchzusteuern“ versucht. Statt die kulturellen Prägungen und Vorurteile zu leugnen oder zu überhöhen, müsse es darum gehen, die „überlappende Struktur der Gefühle“ beim Betrachten eines Kunstwerks diskutierbar zu machen. Inwieweit der Ausstellungsmacher Enwezor dieses Offenhalten der ästhetischen Reaktion auch wirklich beherzigte oder doch auf eine von oben dekretierte Lesart setzte, wäre somit ein mögliches Kriterium, um die Qualität seiner Anordnung rückblickend zu beurteilen.

Die niederländische Kunst- und Literaturtheoretikerin Mieke Bal, von der nun ein sehr guter Auswahlband („Kulturanalyse“) vorliegt, plädiert dafür, das Ausstellen als Sprechakt zu begreifen, bei dem ein Akteur einen narrativen Plan verfolgt und Ansichten über sich und die Welt preisgibt. Eine Interpretation, die nur dessen möglichen Intentionen oder gar einem (einzigen) Sinn nachspüre, würde allerdings die vielschichtige Kommunikationslage einer Exposition, bei der die Objekte ein Eigenleben entwickeln und „zurücksprechen“, notwendig verfehlen. Der bevorzugte Blick auf Künstler oder Kuratoren müsse daher aufgegeben werden, um das starre Autoritäts- und Herrschaftsverhältnis zwischen dem Ausstellenden, den Werken und den aneignenden Betrachtern „zu destabilisieren“. In dieser gewünschten Verunsicherung liegt wohl die wahre Zumutung der Kunst.

JAN ENGELMANN

Mieke Bal: „Kulturanalyse“. Hg. v. Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 370 S., 35,90 €ĽJörg Huber (Hg.): „Singularitäten – Allianzen“ (Interventionen, Band 11). Springer Verlag, Wien/New York 2002, 307 S., 23,30 €