„Übers Ziel hinausgeschossen“

Die Debatte zwischen Intellektuellen in Deutschland und in den USA leidet an zu viel Polemik, kritisiert der deutsch-amerikanische Historiker und Friedenspreisträger Fritz Stern. Er teilt das Unbehagen an der Politik der US-Regierung: „Sie betreibt einen Alleingang ohnegleichen“

InterviewKIRSTEN GRIESHABER

taz: Herr Stern, seit dem US-Angriff auf Afghanistan streiten deutsche und amerikanische Intellektuelle öffentlich darüber, ob man diesen Krieg moralisch rechtfertigen kann. Wie beurteilen Sie die Debatte? Fritz Stern: Ich bin nicht sehr beeindruckt, weder von dem amerikanischen Aufruf noch von der deutschen Antwort. Meiner Meinung nach verstecken beiden Seiten hinter ihren philosophischen Äußerungen sehr viel Politik. Die amerikanischen Verfasser berufen sich in ihrer Argumentation unter anderem auf internationale Rechtsformulierungen. Sie versuchen, die Öffentlichkeit von der moralischen Überlegenheit ihres Anliegens zu überzeugen. Bei den Deutschen hatte ich, ehrlich gesagt, den Eindruck, dass sie übers Ziel hinausgeschossen sind und etwas zu einseitig argumentieren.

Können Sie Ihre Kritik an dem deutschen Brief etwas konkretisieren?

Insgesamt kann ich die Kritik an der Politik der Vereinigten Staaten gut nachvollziehen. Doch die deutsche Antwort hat ihre polemischen Pointen: zum Beispiel die Verurteilung der angeblich 4.000 zivilen Todesopfer des Krieges in Afghanistan als Massenmord. Auch ihre Beurteilung des Engagements der Vereinigten Staaten auf dem Balkan entspricht einfach nicht den geschichtlichen Tatsachen. Da muss ich als Historiker klar feststellen, dass die Verfasser des Briefes sich durch faktische Fehleinschätzungen schlichtweg selbst diskreditieren.

Demnach stehen Sie der gesamten Debatte eher skeptisch gegenüber?

Grundsätzlich nicht. Ich bin ein großer Befürworter des transatlantischen Dialogs. Ich halte es sogar für sehr wichtig, dass die so genannten Intellektuellen beider Länder in der Öffentlichkeit miteinander diskutieren und ihre unterschiedlichen Positionen deutlich machen. Doch wenn man dabei die Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt, führt das nur dazu, dass der Dialog an sich immer schwieriger wird.

Der von US-Präsident George W. Bush ausgerufene „Kampf gegen den Terror“ stößt nicht nur bei den Verfassern des Briefes, sondern bei vielen Deutschen auf Kritik und Misstrauen. Gleichzeitig herrscht in der Bundesrepublik der Eindruck, dass sich unter den BürgerInnen der USA kaum Widerstand gegen Bushs Politik regt. Täuscht das?

Ich habe als einer der Ersten, bereits im Oktober 2000, vor dem gefährlichen Unilateralismus einer möglichen Bush-Administration gewarnt. Bis heute stehe ich dieser Regierung und ihrem politischen Kurs sehr kritisch und besorgt gegenüber. Seit dem 11. September habe ich aber auch wiederholt öffentlich darauf hingewiesen, dass es nicht nur eine amerikanische Stimme gibt. Selbst am 12. oder 13. September gab es die unterschiedlichsten Reaktionen in den USA. Und gerade in den letzten Wochen ist die Kritik am Regierungskurs von Bush immer lauter geworden, selbst innerhalb der eigenen Partei. Umso bedauernswerter finde ich, dass diese Stimmen in Europa anscheinend nicht wahrgenommen werden.

In Deutschland haben wir bis jetzt noch nicht den Eindruck bekommen, dass sich die BürgerInnen der Vereinigten Staaten nachdrücklich gegen einen Angriff auf den Irak aussprechen würden.

Das entspricht nicht den Tatsachen. So hat unter anderem gerade Richard Holbrooke, der ehemalige US-Botschafter in Deutschland, ganz deutlich in der Washington Post darauf hingewiesen, dass der Weg nach Bagdad über den UN-Sicherheitsrat führen muss. Ich glaube, dass wir uns sowohl in Europa als auch in den USA darüber einig sind, dass Saddam Hussein eine wirkliche Gefahr darstellt. Nur in der Frage der Vorgehensweise ist man sich uneinig. Und diese Uneinigkeit ist auch in den USA sehr ausgeprägt. Glauben Sie mir, die Bevölkerung bei uns drängt nicht auf einen Krieg.

Die Bush-Regierung aber schon.

Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass der Präsident und die meisten seiner Berater einen Grad von Unilateralismus betreiben, den es in diesem Land bis jetzt noch nicht gegeben hat. Alle meine Befürchtungen haben sich leider als richtig erwiesen. Es besteht kein Zweifel, dass die jetzige US-Regierung, mit Ausnahme von Außenminister Colin Powell, einen Alleingang ohnegleichen betreibt. Der Rest der Welt darf die USA in ihren Anliegen gerne unterstützen, aber wer nicht mitmachen will, wird ignoriert. Nach dem Motto: Wir sind die stärkste Nation der Welt und können unsere Interessen auch ohne eure Zustimmung durchsetzen.

Trotz aller berechtigten deutschen Kritik an den USA – hatten Sie in letzter Zeit den Eindruck, dass die deutsche Regierung sich mit ihren Unmutsäußerungen gegenüber der Supermacht USA auch ein Stück profilieren will?

Das kann ich schwer beurteilen. Schröder ist in Hinsicht auf den Irakangriff von seiner berühmten Versicherung der „uneingeschränkten Solidarität“ abgewichen. Das kann ich gut verstehen. Was ich dagegen bedauere, ist, dass die Europäer bei einer so wichtigen Frage wie dem Angriff auf den Irak mal wieder keine Einigkeit demonstrieren können, dass es auch nicht zu einer Gemeinsamkeit mit Frankreich kommen konnte.

Sie vermissen also eine einheitliche europäische Position im derzeitigen transatlantischen Konflikt?

Ja, denn ich halte die europäische Kritik für sehr wichtig, ich halte sie sogar für eine politische Notwendigkeit. Gerade die Europäer, die in ihrer eigenen Geschichte so viel Unglück angerichtet haben, wissen, welch unkalkulierbare Risiken politische Fehlentscheidungen in sich bergen können. Und wenn europäische Politiker der Meinung sind, dass die Vereinigten Staaten sich und den Rest der Welt mit einem Angriff auf den Irak in Gefahr bringen, müssen sie die US-Regierung davor warnen.

Nun versuchen viele Amerikaner einen Präventivschlag auf den Irak ebenfalls mit dem Verweis auf die europäische Geschichte zu legitimieren. Sie ziehen die Parallele zum Zweiten Weltkrieg und behaupten, dass viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die Alliierten Hitler zu einem früheren Zeitpunkt mit militärischer Gewalt gestoppt hätten. Was halten Sie von diesem historischen Vergleich?

Tatsächlich hätte man Hitler am 7. März 1936 beim Einmarsch ins Rheinland stoppen können. Man hätte ihm militärisch begegnen können, und dann wäre die Geschichte ganz anders verlaufen. Das wissen wir heute. Und daher bezeichnen Stimmen in den USA das derzeitige Zögern der Europäer auch gerne verächtlich als typisch europäische Appeasement-Politik.

Doch der Konflikt mit dem Irak ist in seinen Ausgangspositionen, militärisch und politisch gesehen, viel komplizierter und lässt sich nicht mit Deutschland im Jahre 1936 vergleichen. Bei dem gegenwärtigen Konflikt ist die geopolitische Problematik, die Frage des Raumes, von viel größerer Relevanz. Auch die Gefahren sind viel größer. Denn wer einen Krieg im Irak anzettelt, darf nicht vergessen, dass er damit die gesamte Region in Aufruhr stürzt.

Glauben Sie, dass sich die Regierung in Washington der Konsequenzen ihrer Politik bewusst ist?

Unglücklicherweise ist Präsident Bush noch stärker als andere Präsidenten und auch mehr als sein eigener Vater hauptsächlich an Innenpolitik interessiert. Und an seiner eigenen Wiederwahl! Hinzu kommt, dass der Unilateralismus seiner Administration ein wirkliches Gefahrenmoment für die internationale Politik darstellt. Der Gedanke, dass das Weltgeschehen zu einem so maßgeblichen Teil von diesem Präsidenten bestimmt wird, ist wirklich alles andere als ermutigend.