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: Fühlt ihr da wirklich was? Wie der 11. September in Berlin begangen wurde

In der Sondersendungssonderausgabenwelt

Ist es, weil ich den Tag krank auf dem Sofa begann, dass ich diesen 11. September so seltsam und aus der Zeit gefallen erlebe? Es ist das Wetter, sagt meine Freundin, zwei Schichten schieben sich übereinander, Warm und Kalt, das gibt Turbulenzen. Welche der Strömungen die Oberhand behält, ist nicht ausgemacht.

Rumsfeld redet vor dem Pentagon, nur Krieg im Blick, dann Bush, auch grässlich, aber besser angezogen. Dann, ehe der nächste singende Soldat zum Mikro greift, schaltet BBC World an den Ground Zero. Die Menschen lesen sich die Namen der Toten vor, der Wind treibt den Staub in die Höhe, über die Köpfe. In die Leere des Ground Zero ist ein Ring gezogen – woraus, ist aus der Ferne des Fernsehens nicht zu sehen. Im Nichts markiert er einen Ort, den es nicht mehr gibt. Oder schafft er an einem Ort, der real ist, ein Nichts, damit man die Leere greifen kann? Einzelne klettern über den Ring – ist er aus Lehm? – legen dort, wo nichts ist, Blumen nieder, verstreut, zufällig, irgendwo im Kreis, der keinen Mittelpunkt hat.

Ich kann die Sonderausgaben der Zeitungen nicht mehr lesen und lese sie doch. Den Fernseher aber stelle ich weg. Heute sei um 18 Uhr im Dom ein Gottesdienst, hat H. gesagt. Ich will hin, mir die Trauer aufheben bis dahin. Zum richtigen Zeitpunkt das Richtige spüren, ein falscher Gedanke? Verschiebe die geplante Wohnungsbesichtigung für den Gottesdienst, Terminclash. Die SMS kommt spät: Gibt doch keinen Gottesdienst, sorry, H. Alles noch rechtzeitig, Anruf in der Wohnung: Wir kommen doch zur Besichtigung. Nichts klappt heute beim ersten Mal, nichts geht wirklich schief. Sogar für den Gottesdienst gibt es Ersatz: Haus der Kulturen der Welt, ein Jazzkonzert, New Yorker Musiker zum 11. September, gratis, 20 Uhr.

R. zieht nach London zurück, nach drei Jahren auf dem Trading Floor der Bankgesellschaft. Der Job ist nicht sicher, welcher ist das schon? Schöne Wohnung, Gespräch auf Englisch, Abschied in der Tür. Zu dem Gedenkkonzert, do you go there for professional reasons? Sie fragt schüchtern. Sie meint: Fühlt ihr da wirklich was?

Es gibt ein Konzert in der Philharmonie, die Jazzmusiker im Tiergarten, sonst nur was für den Kopf: Videoinstallationen zu 9/11, Podiumsdiskussion zu Neuen Kriegen, ZDF-Nachtstudio Spezial. Wo aber gehen die Leute hin? Gerade mal den Gottesdienst im Dom gibt es, tagsüber, als alle arbeiten. Für die geladenen Gäste samt Kanzler und Kandidat ist es Arbeit. Niemand scheint ein Bedürfnis zu haben, irgendwohin zu gehen.

Die Sondersendungssonderausgabenwelt hat die Erinnerung entrückt, gleich zweimal privatisiert: Ausrichter sind Verlage und Sender, und konsumiert wird die Traurigkeit, wenn überhaupt, daheim, nach der Tagesschau. Der 11. September ist kein Tag in Deutschland. Vor den Kneipen sitzen Leute und essen Tagliatelle. Warum auch nicht? Mahnwachen hat keiner organisiert – ich auch nicht, da käm ich mir lächerlich vor – und also gibt es auch keine. So einfach ist das.

In 25 Zeitzonen (warum nicht 24?) singen Chöre Mozarts Requiem, BBC zeigt die Bilder, Beginn immer um 8.46 Uhr, beim Einschlag des ersten Jets. Deutschland scheint nicht dabei. Warum?

Der 11. September, hier ist der weit weg, sagt I., das kann man doch verstehen. Bei der Übertragung des Staatsgottesdienstes aus dem Dom ertappe ich mich beim Wunsch, dass einer von denen aus der ersten Reihe Gefühl zeigt, stellvertretend, für mich. Volksvertreter, Gefühlsvertreter? Vor einem Jahr am Brandenburger Tor konnte ich gut verzichten auf den Soli-Auftritt der Staatsschauspieler. Jetzt fehlt mir eine Geste, ein Schritt über die Pflicht hinaus.

Oranienburger Ecke Linienstraße sind die Rollläden runter. Der Inder hat geschlossen. 40 Inder starben im World Trade Center, sagte BBC. Oder waren das die Malaysier? Der Inder hat wegen Rezession geschlossen, nicht wegen des 11. Septembers. PATRIK SCHWARZ