Nanjing Road

5. Preis: Begegnung in Shanghai

von DANIEL BIELENSTEIN

Wir standen auf der Nanjing Road, um uns tobte das neue China mit seiner Kaufwut, seinen Farben, Sonderangeboten, seiner Gier, und ich, ich war müde. Ich blieb stehen, ein Fels im Strom der Kaufwütigen, meine Reisegruppe trieb weiter. Ich wollte verloren gehen. Ich hatte Lust auf etwas anderes als Sehenswürdigkeiten und Souvenirs.

„Hey. Hallo. Siehst du dir die Stadt an? Wollen wir ein Stück zusammen gehen? Ich heiße Mike.“ Er stand direkt vor mir, lächelte ziemlich süß und mit schlechten Zähnen, hatte schwarze Haare, war sehr weich, als hätte er keine Knochen.

„Okay“, sagte ich.

Mike hieß eigentlich Ming und sein Motorroller stand in einer Seitenstraße. „Halt dich an mir fest“, sagte er, ich tat es, und es gefiel mir.

Ein ganzer Nachmittag: Im Yu-Garden träumten wir von einem vergangenen Zeitalter, Mike tänzelte vor mir und erzählte von Eunuchen und Konkubinen, in Pudong fuhren wir in den 64. Stock des Jin Mao Towers, eines Luxushotels. Mike sagte: „Mein Cousin arbeitet hier, wir können ein Zimmer haben.“

„Ich möchte deine Wohnung sehen“, sagte ich, das war unhöflich und eine Chance, die in keinem Reiseprogramm zu finden war. Er sah mich irritiert an. „Komm mit.“

Wir fuhren durch endlose Reihen aus Wohnsilos, Wäsche zum Trocknen, Garküchen auf der Straße, Kinder, denen der Mund offen stand, als sie mich sahen. „Ich werde berühmt durch dich“, sagte er und lachte.

Die Wohnung bestand aus einer Küche und anderthalb Zimmern, es war ziemlich unordentlich, überall Stapel mit Zeitungen und Kleidern, alles andere als romantisch.

„Erzähl mir etwas von dir“, sagte Mike, ich setzte mich auf das Bett. Ich erzählte ihm von meinem Beruf, von meiner Stadt, er fragte, ob ich ein Auto hätte, ich erzählte ihm von meinem Auto. Während ich das tat, zog er mich aus.

Mike war klein, seine Haut sehr weiß und seine Hände gepflegt und weich wie roher Fisch. Er streichelte mich und legte seinen Kopf auf meinen Bauch, mein Schwanz war direkt vor seinen Augen, er konnte nicht genug davon bekommen. Er legte sich auf den Rücken, ich berührte ihn, es gefiel ihm, aber auf seinem Gesicht entdeckte ich ein Lächeln, das war abgeklärt, ich konnte ihn durch nichts überraschen. Ich war traurig. Mike legte den Arm um mich. „Was ist los?“

Ich wollte nicht sprechen, ich war jetzt in seiner fremden Welt zu Hause, Mike würde auf mich aufpassen, wenn ich ihn darum bat, ich würde auf ihn aufpassen, für diesen kurzen Moment liebten wir uns, wir waren beide überrascht. Ich berührte seine Lippen und er nahm meine Finger in den Mund und sah mir dabei in die Augen. Mehr nicht. Dann begannen die Uhren wieder zu schlagen.

Ich stand an der Wohnungstür, ich wollte Abschied nehmen, mir fiel nichts ein, ihm fiel nichts ein. Ich zog Geld aus der Tasche.

„Nein, nein. So war es nicht gemeint“, sagte Mike. Ich sah an die Wand, an der das Poster irgendeines Sängers hing, ich hörte den Lärm der Straße unter uns, dann nahm er das Geld.

„Ich werde es meiner Frau geben“, sagte er. „Bist du verheiratet?“

Ich schüttelte den Kopf und ging, ich wollte fort sein, bevor Mike sah, dass ich weinte. Auf der Straße starrten mir die Kinder hinterher, die Köche an den Ständen riefen irgendetwas, alte Frauen gackerten. Ich liebte in diesem Moment sogar die Straße, ich wusste, dass sie nicht mehr da sein würde, wenn ich jemals wiederkam in die Stadt, in das Land, in dem alles nur ein kurzer Moment ist.