Anwalt der Ohnmächtigen

Vor knapp einem Jahr wurden die Rechtspopulisten um Ronald Schill in Hamburgs Regierung gewählt. Ihre Law- and-Order-Erfolge sind zwar kaum messbar – aber ihrer Beliebtheit hat das keinen Schaden zugefügt

von ULRIKE WINKELMANN

Immer dieser gepflegte Dreiteiler, in dem der Mann massig, aber nicht dick wirkt. Die Haare wirken stets etwas flusig gekämmt. Frauen über vierzig mögen ihn. Ein Mann, der sich eine gewisse Jungenhaftigkeit bewahrt hat. Sein Hamburger Akzent ist gerade so stark, dass er seiner schneidigen Rhetorik eine gewisse Heimeligkeit verleiht, die Hanseaten so mögen. Seine Sätze sind vom Zweifel frei. Und er scheut sich nicht, Räume in einem Knastneubau höchstselbst auszumessen, um hinterher zwölf Quadratmeter Einzelzelle als „puren Luxus“ zu bezeichnen.

Ronald Barnabas Schill hat vor einem Jahr die Bürgerschaftswahlen in Hamburg gewonnen und verkauft seither den Bruch all seiner Wahlversprechen als pragmatische Realpolitik, die, wenn schon nicht in der Sache akkurat, so doch im Prinzip richtig ist. Mit der Halbierung der Kriminalitätsrate binnen hundert Tagen – das war wohl nichts. Hauptsache, die Bürger denken, dass etwas getan wird.

Das Thema innere Sicherheit – es ist Schills einziges Thema – legt es nahe, von der Rolle der Medien zu sprechen. Kriminalität taugt insoweit zum Politikum, als sich mit der Rede von ihr die Ängste der Bevölkerung schüren lassen. Jeder weiß, dass die reale Verbrechenshäufigkeit nichts damit zu tun hat, wie gut sich die Menschen auf der Straße, am Bahnhof und in der S-Bahn fühlen. Im Jargon heißt das, die „objektive“ und die „subjektive“ Sicherheitslage klaffen auseinander.

So richtig es ist, Schill als Medienhelden zu begreifen – zur Erklärung des Phänomens Schill reicht es nicht. Es stimmt, dass eine von der Sozialdemokratie unendlich gelangweilte Presse in Hamburg das Thema Kriminalität so hoch gezogen hat, dass zwanzig Prozent der Bevölkerung glaubten, Schills Vorschläge – geschlossene Heime für Jugendliche sowie eine unbedingte Förderung des Autoverkehrs – seien die Lösung ihrer Probleme.

Aber es stimmt nicht, dass der Erfolg Schills der vorwiegend zustimmenden Berichterstattung über ihn geschuldet ist. Zwar kommt keine Reportage ohne die Beschreibung des begeisterten Zuspruchs aus, den er beim durchschnittlich frustrierten Kleinbürger erntet. Aber Schill ist mehr als seine Wirkung, er ist nicht nur Talkrundensieger und Schrecken aller Rot-Grünen.

Die Person Schill hat eine Herkunft, und die Hamburger Gemengelage hat eine Geschichte. Beide Faktoren sind bislang in die Bemühungen der Populismusanalysten kaum eingegangen.

Zunächst zur Person Schill. Der Mann ist in Hamburg geboren, aufgewachsen und hat dort erst ein paar Semester Psychologie, dann bemerkenswerte acht Jahre lang, bis 1988, Jura studiert. Bis 1991 arbeitete er am Fachbereich auch als Lehrkraft für Strafrecht. Im Mai 1993, damals war die als liberal bekannte Lore Maria Peschel-Gutzeit noch Justizsenatorin, wurde er zum Richter ernannt.

Fast alles Weitere bleibt im Ungefähren. Kaum etwas weiß man über seine Eltern. Niemand in dieser Stadt, wo doch sonst irgendwie jeder jeden kennt, gibt Auskunft. Weder ein Schill-Kommilitone noch ein Schill-Kollege oder ein Schill-Student. Und wie er Richter werden konnte, ist ebenso fragwürdig. In Hamburg ist es besonders schwer, Richter zu werden. Die Zahl der Anwärter auf einen dieser Jobs in Hamburg ist groß, denn erstens wollen Hamburger sowieso immer in Hamburg bleiben, und zweitens wollen viele hierher.

Mehrere lange Gespräche mit Richtern und Leuten aus der Justizbehörde, die menschliche und fachliche Eignung prüfen, macht der Bewerber mit, ehe er angenommen wird. Anwalt werden kann jeder. Richter aber müssen sich besonders durch eines auszeichnen: Maß. Also durch die Fähigkeit, abzuwägen. Ist Schills auffälligstes Merkmal – sein Mangel an eben dieser Tugend – denn nie jemandem aufgefallen?

Zu der Zeit, als Schill studierte und lehrte, gab es in Hamburg noch zwei Fachbereiche Juristerei – mit je konträrer Hausideologie. Jura I, das größere Institut, galt als konservativ, Jura II als links. Dieser Ruf hatte gar nicht einmal so viel mit den Professoren zu tun – Rechtsausleger waren bei Jura I nur die wenigsten –, half jedoch, dass sich die Studentinnen und Studenten größtenteils selbst einsortieren konnten.

Am Sitz von Jura I, dem Rechtshaus, gab es einen teils wohl-, teils böswollend gemeinten Witz für Leute, die sich aufregten über Burschenschaftler, über Jungunionisten und darüber, dass viele von ihnen den Freund-Feind-Theoretiker Carl Schmitt als wichtigen Denker bezeichneten: „Geh doch nach drüben.“ Im Rechtshaus herrschte eine selbstbewusste Trutzburgstimmung: „Wenn irgendwo in der Stadt offen konservativ geredet werden darf, dann hier. Und wenn irgendwer gesellschaftliche Konflikte letztgültig entscheidet, dann wir, die Juristen.“

Könnte es also sein, dass Schill einfach ein normaler Hamburger Jurist ist? Könnte es sein, dass das Schill-typische Zweifrontendenken – „Hier die laschen Jugendrichter, da die harten Rechtsschützer“ – auch ein Produkt der unglückseligen Juristenausbildung der Hamburger Art ist? Und: Wäre es möglich, dass auch die Schill-Opponenten in diesem Denkmuster verharren?

Auch ein zentrales Ereignis im Hamburg der Neunzigerjahre bedürfte im Hinblick auf Schill noch neuerer Beachtung: der örtliche Polizeiskandal. 1994 kam heraus, dass Ausländer in Hamburger Polizeiwachen systematisch misshandelt, die Taten systematisch durch Kameraderie gedeckt worden waren. Ein Innensenator musste gehen, ein Untersuchungsauschuss mit dem dazu gehörenden Wissenschafts- und Öffentlichkeitsapparat wurde in Gang gesetzt, um die Hamburger Polizei zu durchleuchten.

Eine 1997 vorgelegte Studie von Bielefelder Soziologen kam zu den Ergebnis, dass die Hamburger Polizei unter mangelnder Kommunikation zwischen oben und unten litt. Der Korpsgeist, den sie ebenso wie eine erschreckend starre Law-and-Order-Mentalität feststellten, fand bei ihnen eine Begründung: Die Beamten hatten das Gefühl, dass ihre Arbeit weder von ihren Chefs noch in der Öffentlichkeit gewürdigt wurde.

„Wer sich zu Beginn seines Dienstes noch als Repräsentant staatlicher Macht fühlte, dann aber tagtäglich die staatliche Ohnmacht etwa im Kampf gegen Drogenkriminalität erfährt, errichtet unbewusst Schutzmauern gegen diese deprimierenden Enttäuschungen und flüchtet ins konservativ-autoritäre Wertlager“, formulierten die Autoren kühl. Wer sich nun Schills Sprüche anschaut, erkennt, dass sie eins zu eins die populärsten Vorstellungen der durch frustrierende Arbeit und den Skandal doppelt gedemütigten Beamten wiedergeben.

Schill traf, alles in allem, den Nerv der meisten Hamburger. Indem er für die Hamburger Polizei focht, machte er sich nicht nur zum Fürsprecher von Ruhe und Ordnung. Könnte es sein, dass Schill damit auch einem ganz normalen gesellschaftlichen Bedürfnis nach Integration entsprach, danach, dass die Repräsentanten der Staatsmacht wieder dazugehören sollten? Könnte es sein, dass es nicht eigentlich der Ruf nach dem Rechtsstaat, sondern das Verlangen nach Teilhabe, nach Integration hinter dem überwältigenden Zuspruch steht, den Schill geerntet hat? Dass die Schill-Wähler sich aus dem rotgrünen Hamburg ebenso ausgeschlossen fühlten wie die Polizisten?

Trostlos, aber wahr: Genauso wenig, wie sich Schill von der Presse zum Innensenator schreiben ließ, lässt er sich nun aus der doch einstmals so gemütlich linksliberal eingerichteten Hansestadt wieder wegschreiben. So gesehen, ist zum Beispiel das erste Buch über Ronald Schill zwar eine hervorragende Materialsammlung, bleibt aber in der Analyse recht schnell stecken.

Die Journalisten Marco Carini und Andreas Speit haben in „Ronald Schill. Der Rechtssprecher“ sicherlich alles zitiert, was über Schill bislang geschrieben wurde. Aber sie haben erkennbar weder mit ihm selbst noch mit Menschen aus seinem Umfeld gesprochen, und sie haben ihre Kollegen Lokalreporter auch nicht gefragt, warum es denn so erlösend war, mit der Berichterstattung über Schill und seine Fans endlich in die Zeitungen schreiben zu können, womit ihnen Volkes Stimme schon lange in den Ohren lag.

Populisten, das haben wir aus den Erfolgen eines Jörg Haider, eines Pim Fortyun, eines Ronald Schill gelernt, haben Erfolg, weil die Menschen sich nicht mehr durch eigene Herkunft, Stand und Milieu einer Volkspartei zugehörig fühlen. Sie wählen die neuen Typen, die sich kantiger geben und wohl auch sind, also die Personen mit den besonders einfachen Lösungen. Dass auch ein Gerhard Schröder mal mit dem Satz „Wegsperren, und zwar für immer“ auftrumpft, gilt ihnen dann nur als Bestätigung. Dass so ein sozialdemokratischer Kanzler ansonsten aber leidliche, sagen wir, Gesundheitspolitik macht, ist in diesem Kontext ganz einerlei.

Gegen Populismus gibt es keine simplen Lösungen. Sicher aber hilft es wenig, im Wir-Ihr-Schema zu denken: wir Sauberen, ihr Schmutzigen. Es bleibt auch dies populistisch.

Marco Carini/Andreas Speit: „Ronald Schill. Der Rechtssprecher“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2002, 200 Seiten, 15 EuroULRIKE WINKELMANN, 31, ist Redakteurin im Inlandsressort der taz