Fortgesetzte Notaufnahme

Jahrelang ließ sich Marcus P. in Dutzenden von Kliniken aufnehmen – ohne krank zu sein. Die Geschichte eines Simulanten aus Hilflosigkeit

aus Witten BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA

Marcus P. ist leicht zu erkennen. Am Telefon hat er sich beschrieben. 1,99 Meter Körpergröße, 120 Kilogramm Gewicht. Wie verabredet, wartet er mittags um zwölf in der Eingangshalle des Bahnhofs in Witten, einer hunderttausend Einwohner zählenden Stadt an der Ruhr, zwischen Bochum und Dortmund. Sein Händedruck ist nicht sehr kräftig, sein Lächeln nett, schüchtern. Seine Kleidung – Sweatshirt, Hose und Turnschuhe – trägt er in XXL. Die Schultern hängen leicht nach vorn. Die Arme schlenkern beim Laufen unbeholfen an ihm herum. Die Beine scheinen ihm nur schwer zu folgen. Der Schnauz- und Kinnbart des 27-Jährigen ist mehr jugendlicher Flaum denn Erwachsenenstatus. Die Augenlider hängen etwas tief, sodass er immer betrübt wirkt.

Viel Grund zum Lachen hat Marcus P. ohnehin nicht. Bei der Staatsanwaltschaft Hagen läuft ein umfangreiches Ermittlungsverfahren gegen den nicht vorbestraften jungen Mann wegen einer Vielzahl von Betrugs- und Diebstahlsdelikten. Anderthalb Jahre lang ließ er sich in Kliniken kreuz und quer durch Nordrhein-Westfalen als Patient aufnehmen – ohne wirklich krank zu sein. In Düsseldorf, Neuss, Köln, Wetter, Hagen, Mönchengladbach, Solingen, Krefeld, Bottrop, Wuppertal, Duisburg, Recklinghausen, Witten und einer Reihe anderer Städte.

Er hat Patienten bestohlen und in Internetcafés gesurft, ohne zu bezahlen. Es sind so viele Einzelfälle, dass die Staatsanwaltschaft noch eine Weile brauchen wird, bis die Anklage steht. Anfang Juni wird Marcus P. in einem Internetcafé in Witten festgenommen. Er kann die Rechnung nicht bezahlen. Bei der polizeilichen Vernehmung fliegt der Krankenhausbetrug auf. Weil Marcus P. davon erzählt. „Ich wollte, dass es zu Ende ist“, sagt er auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadtzentrum.

„Das ist ein ganz armer Hund, bei dem irgendwann etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Der gehört nicht ins Gefängnis“, sagt Richter Bernd Grewer vom Amtsgericht Witten, der den Haftbefehl aufhob. Seitdem muss sich Marcus P. zweimal in der Woche bei der Polizei melden und für Ämtergänge und Wohnungssuche regelmäßig die Beratungsstelle für Wohnungslose in Witten aufsuchen.

Für das Gespräch wählt Marcus P. ein italienisches Eiscafé. Nicht, weil es ihm besonders gut gefällt. Aber es liegt in Sichtweite zur Polizei, wo er später noch hin muss. Die Stadt ist ihm nur wenig vertraut. „Am besten kenne ich hier die Krankenhäuser“, sagt er und braucht einige Sekunden, bis er die unfreiwillige Komik bemerkt. Lachen kann er darüber nicht.

An die genaue Zahl der Kliniken, bei denen er sich Kost und Logis erschlichen hat, kann sich Marcus P. nicht mehr erinnern. „So ungefähr zweihundert“, sagt er, während er sich die erste von vielen Zigaretten dreht. Nein, sagt er, stolz ist er nicht auf das, was er getan hat. „Ich schäme mich.“ Der Satz klingt nicht nach aufgesetzter Reue. Seinen Nachnamen will er nicht in der Zeitung gedruckt sehen. „Wegen der Schande für meine Eltern.“

Vor der Festnahme von Marcus P. war Witten durch zwei Dinge über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Durch die Universität Witten-Herdecke, die erste deutsche Universität in privater Trägerschaft, und durch ein junges Paar, das angeblich auf „Befehl des Satans“ einen Bekannten mit 66 Messerstichen und Hammerschlägen regelrecht massakrierte. Und nun Marcus P.

„Ein Wohnungsloser hat in Nordrhein-Westfalen den Aufstieg zum Simulant des Jahres geschafft“, schrieb die Nachrichtenagentur dpa und sparte nicht mit Spott. „Zum Verdruss des Gauners erließ ein Richter Haftbefehl, setzte ihn aber unter Auflagen außer Vollzug.“ Auf der Internetseite von Yahoo wurde die Meldung unter „Skurrile Nachrichten“ platziert. In dieser Rubrik wird von Menschen berichtet, die auf Geldautomaten pinkeln oder ein Chamäleon bei der Einreise als Hut tarnen. In der Wittener Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen hieß es: „Simulant lässt sich’s gut gehen im Krankenbett“.

Die Geschichte von Marcus P. ist eine traurige Geschichte. Er ist kein gerissener Betrüger, der sich einen Jux daraus machen wollte, das Gesundheitswesen vorzuführen. Dass er in Krankenhäusern ein Obdach suchte, ist Ausdruck von Verzweiflung, Hilflosigkeit und Unwissen. Marcus P. ist von Geburt an Epileptiker. Seine Eltern waren mit seiner Krankheit offenbar so überfordert, dass sie jeden Kontakt zu ihrem Kind abgebrochen haben. Seit Jahren schon. Die Mutter, so ist zu erfahren, war kühl und abweisend, als sie über die Festnahme ihres Sohnes informiert wurde. „Ich kann den aber nicht nehmen“, hat sie gesagt.

Diese Ablehnung macht Marcus P. am meisten zu schaffen. Mehr noch als der bevorstehende Prozess. Für seine Krankenhaustour hat er eine simple Erklärung. „Ich brauchte ein Dach über dem Kopf und habe nur an mich gedacht“, sagt er beim Milchkaffee und blickt auf den Tisch. „Ich habe nie den Gedanken gehabt, dass es ein großartiger Betrug ist.“ Die Diebstähle – Geld, Handtaschen und Telefonkarten von Patienten – erwähnt er nicht. Erst auf Nachfrage. „Das tut mir Leid“, sagt er mit leiser Stimme. „Ich hatte kein Geld.“ Hört man Marcus P. zu, erscheint sein Tun logisch und normal – aus seiner Sicht. Er hat eben keinen einfacheren Weg gefunden, sich zu helfen.

Nach seiner Festnahme bekam Marcus P. diverse Anfragen von privaten Fernsehsendern, die ihm Geld für seine Geschichte boten. Er hat abgelehnt. „Ich will meine Geschichte nicht verkaufen“, sagt er. Er will sie aber erzählen. Er überlegt kurz, wo er beginnen soll. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, scherzt er. Beim nächsten Satz wird er ernst. „Seit meiner Geburt bin ich Epileptiker. Die Nabelschnur war um den Hals. Die ersten drei Jahre war ich nur im Krankenhaus.“ Seit zweieinhalb Jahren aber, sagt er, ist er anfallsfrei.

Die Fakten seiner Schilderungen, ergibt die Recherche, stimmen im Großen und Ganzen. Aufgewachsen ist Marcus P. in Kempen, in Krefeld besuchte er eine Integrationsklasse der Montessori-Grundschule. „Bis zum dritten Schuljahr konnte ich nicht lesen und hatte starke Konzentrationsschwächen“, erzählt er. Nach sechs Jahren wurde er nach Bielefeld, in Europas größte diakonische Einrichtung, die von Bodelschwingh’schen Anstalten Bethel, überwiesen. Dort werden mehr als 14.000 Menschen in Kliniken, Heimen, Schulen, Kindergärten und Wohngruppen betreut. Für Epileptiker gibt es in Bethel – das Wort kommt aus dem Hebräischen und heißt „Haus Gottes“ – ein eigenes Zentrum mit Berufsbildungswerk und Internat.

Marcus P. erzählt gerne und viel von seiner Zeit in Bethel. In einem Haus dort hatte er seine „beste Zeit“, lebte behütet und trotzdem relativ selbstständig. In einem anderen Haus war es ihm zu locker. „Dort vermisste ich das familiäre Gefühl.“ Der Hauptschulabschluss, sagt er, ist ihm leicht gefallen. „Wupp, weg, das ging ratzfatz.“ In seiner Freizeit ging er in Diskos, spielte Minigolf, fuhr mit dem Mountainbike durch Wälder, ging schwimmen oder in den nahe gelegenen Safaripark. Und hat viel gelesen, nachdem seine Leseschwierigkeiten überwunden waren. Karl May, Robinson Crusoe, Steven King, Superman, Batman.

Alle zwei Wochen fuhr er nach Hause zu seinen Eltern. Mit der Mutter, Zentralistin einer Taxizentrale, und dem Vater, einem Bergmann, beide mittlerweile im Ruhestand, hat er sich gut verstanden. „Und jetzt sitze ich hier. Na, Prost Mahlzeit“, sagt Marcus P. und versucht zu lächeln. Einen Satz wiederholt er immer wieder. „Ich hänge noch immer an meinen Eltern.“ Der gute Draht zu den Eltern endet abrupt, als Marcus seine Freundin, die auch in Bethel lebt, zu Hause vorstellt. „Weiß Gott nicht die erste, aber die erste ernstzunehmende Beziehung“, sagt er, und es klingt etwas altklug. Die Mutter schimpft. „Wie kannst du so was anschleppen?“ Und: „Wir machen uns zum Gespött.“

Die Freundin zog seit einem Autounfall ein Bein nach. „Damit“, sagt Marcus P., „kam meine Mutter nicht klar.“ Für den Vater war es „Jacke wie Hose“. Doch zu Hause war das, was die Mutter sagt, „Gesetz“. Als die Eltern Silberhochzeit feiern, erlaubt die Mutter nicht, dass Marcus die Freundin mitbringt, beschimpft das Mädchen in Briefen. „Wir haben uns tierisch in die Köppe gekriegt“, sagt Marcus P. Weil er nicht ohne seine Freundin zu der Feier gehen wollte, ging er gar nicht hin. „Da warf mich meine Mutter raus.“ Immer wieder schüttelt er den Kopf. Wie soll man anderen das Verhalten der eigenen Mutter erklären, wenn man es selbst nicht versteht?

Der Rauswurf bleibt nicht ohne Folgen. „Ich fühlte mich nicht mehr so munter, war schlecht gelaunt, wurde eigenbrötlerisch.“ Durch einen Mitschüler gerät er „auf die schiefe Bahn“, sagt Marcus P. „Er hat mich zum Trinken verführt. Das hat ausgeartet. Junge, Junge.“ Die Leistungen an der Berufsschule gehen „wupp, in den Keller“. Schließlich reichen die Noten nicht für eine Ausbildung, sein Wunsch, Verkäufer zu werden, rückt in unerreichbare Ferne.

Als Marcus P. Anfang zwanzig ist, zieht er aus dem Internat aus. Er sagt, dass er vorher mit Mitarbeitern in Bethel über seine Probleme gesprochen hat. „Ich hatte gehofft, dass sie Kontakt zu meinen Eltern aufnehmen.“ Der Leiter des Stiftungsbereiches Behindertenhilfe, Reinhard Hinz, will aus Datenschutzgründen nichts zu Marcus P. sagen. Doch er betont: „Wenn die Angehörigen nicht wollen, können wir nichts machen. Wir sind ja keine geschlossene Einrichtung.“

In seinen Erzählungen erwähnt Marcus P. eine Person, die sich offenbar so um ihn gekümmert hat, wie er es brauchte. Es ist sein ehemaliger Klassenlehrer in der Grundschule in Krefeld, der bei der Überweisung nach Bethel behilflich war. Der 54-jährige Gregor W. kann sich noch gut an seinen ehemaligen Schüler erinnern. Am Telefon reagiert er „erschüttert und traurig“, als er von dem Ermittlungsverfahren gegen seinen früheren Schüler erfährt. „Als Marcus noch in Krefeld war, wirkte er wegen der Medikamente oft etwas verschlafen. Nach sechs Jahren ging er bei mir noch an der Hand.“

Später, sagt Gregor W., besuchte ihn Marcus einmal in der Schule, da muss er etwa neunzehn und noch in Bethel gewesen sein. „Ich freute mich über die gute Entwicklung.“ Marcus sei „kein gerissener Kerl“, sagt der Lehrer. „Aufgrund seines Schicksals stolpert er von einer Falle in die nächste.“ Kommt zwar irgendwie durchs Leben, sei aber „leicht manipulierbar“. Zum Elternhaus sagt Gregor W. vorsichtig: „Die Verhältnisse sind schwierig. Ich vermute, die Mutter hatte Schwierigkeiten, die Krankheit zu akzeptieren.“ Dieser Fall, meint der Lehrer, „zeigt ganz typisch, wie jemand aufgrund seiner Lebensgeschichte durch alle sozialen Netze fallen kann.“

Zeitweise wohnt Marcus P. bei seiner Freundin im Internat in Bethel, zeitweise in der kleinen Wohnung, die sie im Haus ihres Vaters in Köln hat. Und eine Zeit lang jobbt er. „Der Vater meiner Freundin hatte mir was besorgt.“ Regelmäßig fährt er nach Dortmund und Hagen, um Freunde zu besuchen. Das Leben plätschert so dahin. „Bis sie mir fremdgegangen ist.“

Marcus P. beendet die Beziehung zu seiner Freundin, da ist er 23 oder 24. Er kommt bei einem Kumpel unter, den er aus Bethel kennt und der in einer Kleinstadt zwischen Wuppertal und Hagen lebt. Dort meldet er sich polizeilich an und bezieht Sozialhilfe. Als die Freundin seines Kumpels schwanger wird, muss er das Zimmer räumen. Und sowieso, erzählt er, hat der Vermieter auch „Terror“ gemacht.

So steht Marcus P. von einem Tag auf den anderen auf der Straße. „Das muss im November 2000 gewesen sein“, versucht er sich zu erinnern. „Mit paar Mark und einer großen Reisetasche mit dem Gröbsten. Es war dunkel und arschkalt.“ Wo und wie soll er die Nacht verbringen? Beim Überlegen fällt ihm eine Begegnung mit einem Mann in Bielefeld ein. „Das war ein Kiffer“, sagt er, „der hat mir erzählt, wenn du nicht weißt, wohin, dann geh in ein Krankenhaus, markier einen Epilepsieanfall, und schon hast du ein Dach über dem Kopf.“ Er hat gesehen, wie der Typ einfach so in ein Krankenhaus reinmarschierte und ein leichtes Taumeln markierte. „Ein bisschen schockiert“ war er schon, sagt Marcus P., dass das so einfach sein soll. Doch der leichte Schock hielt nicht lange an. „Da dachte ich, dann machste das auch mal.“

In dem kleinen Ort, wo Marcus P. zuvor bei seinem Freund gewohnt hat, gibt es kein Krankenhaus. Also fährt er in das zehn Kilometer entfernte Hagen, dort gibt es mehrere Kliniken. „Ich bin einfach rein, habe meine Versicherungskarte abgegeben und erzählt, ich hätte einen Anfall gehabt und Kopfschmerzen und würde etwas verschwommen sehen.“ Eigentlich will er nur eine Nacht bleiben, wird aber gleich für drei Tage zur Beobachtung dabehalten. Er wird untersucht, Blut wird ihm abgenommen, die Hirnstromkurven gemessen, Tabletten verordnet. Marcus P. mag jemand mit beschränkten Fähigkeiten sein. Doch seine Klinikaufnahmen hat er durchaus geschickt bewerkstelligt. Denn er hat nicht nur gelogen. Wahrheitsgemäß hat er oft gesagt: „Ich bin Epileptiker.“

Kaum wird Marcus P. entlassen, geht er zum Sozialamt. „Ich wollte eine Wohnung.“ Als er auf der Behörde sein Anliegen vorträgt, erfährt er, dass das Sozialamt nicht mehr für ihn zuständig ist. Der Vermieter hat ihn bei seinem Kumpel abgemeldet. Er solle sich doch bei seinen Eltern anmelden, wird ihm geraten. Drei bis vier Jahre hatte Marcus P. von seinen Eltern nichts gehört. Als er deren Telefonnummer wählt, meldet sich eine Stimme vom Band. „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“

Marcus P. versteht nicht. Er ruft die Auskunft an und erfährt, dass seine Eltern keinen Eintrag mehr im Telefonbuch haben. „Bin nicht doof, Jung, rufste bei der Knappschaft an“, beschreibt er seinen nächsten Gedanken. Doch die Versicherung seines Vaters gibt aus Datenschutzgründen die Nummer nicht raus. Er versucht es bei der Schwester seiner Mutter. „Die sagte mir, dass meine Eltern innerhalb von Kempen umgezogen sind und meine Mutter keinen Kontakt will.“

Eltern verzogen, kein Eintrag bei der Telekom, kein Amt zuständig. Marcus P. fährt wieder zu seinem Kumpel und kommt mit Ach und Krach für einige Nächte unter. Er hat kein Geld, sein Kumpel kann ihm nichts leihen. Erneut geht Marcus zum Sozialamt. Dort bekommt er den Satz zu hören, den er schon oft gehört hat: Wir sind nicht zuständig. „Da stand ich wie der Ochs vorm Berg und wusste nicht vor und zurück.“

Wieder ist es Nacht, wieder hat er kein Dach über dem Kopf, wieder fährt er nach Hagen. Diesmal in eine Klinik mit neurologischer Abteilung. „Ich habe dasselbe wie beim ersten Mal erzählt und wurde zwei Wochen dabehalten.“ Er hat nichts dagegen, länger zu bleiben. „Ich habe versucht, einen klaren Kopf zu kriegen und zu überlegen, was ich machen kann.“ Er beschließt, sich „über Krankenhäuser meinen Eltern zu nähern“. Etwa zehn Kliniken hat er auf der Strecke von Hagen nach Kempen ausgemacht.

So schlägt er sich bis Krefeld durch. Von dort sind es nur noch wenige Minuten mit der Regionalbahn nach Kempen. Auf dem dortigen Sozialamt erfährt Marcus P. endlich die Adresse seiner Eltern. Die Telefonnummer nicht. „Ich schrieb ihnen einen Brief, dass ich zurzeit keine Wohnung habe, in Krankenhäusern wohne und eine Meldeadresse brauche“, erzählt er. Als Absender gibt er die Adresse seines Kumpels an, bei dem er vorher gewohnt hat.

Um zu erfahren, ob seine Eltern ihm antworten, macht er sich wieder auf den Weg zu seinem Freund – von Krankenhaus zu Krankenhaus. Sicher wäre es einfacher gewesen, bei seinem Kumpel anzurufen. Doch manchmal liegt das Naheliegendste in weiter Ferne. Vielleicht will er auch nur schwarz auf weiß sehen, was ihm seine Eltern schreiben.

An Details der vielen, vielen Kliniken kann sich Marcus P. kaum noch erinnern. Aufnahmestationen, Flure, weiße Kittel, Blutentnahmen, Tabletten, Aufenthaltsräume – die Bilder gleichen sich. „Die einen machten einen tierischen Heckmeck, die anderen beobachteten nur.“ Besonders gut in Erinnerung geblieben sind ihm zwei Krankenhäuser. „In Witten waren wir ein ganz schön hartes Trüppchen. Abends haben wir Pizza bestellt und im Raucherzimmer gesessen.“ Und in Wetter, wo er über Silvester Patient war, seien die Schwestern „extrem nett“ gewesen. „Es gab Sekt und war sehr familiär.“

Als er bei seinem Kumpel ankommt, liegt dort Post von seinen Eltern. „Sie schrieben, ich soll zusehen, wie ich zurechtkomme, und dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.“ Marcus P. guckt traurig. „Ich dachte mir, dass meine Mutter so reagiert.“ Wieder sieht er keinen anderen Ausweg, als sich krank zu stellen. Nach einiger Zeit hat er es satt, Epilepsieanfälle vorzutäuschen. „Das wurde mir irgendwann zu bunt. Ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen. Ständig neue Tabletten.“

Also verlegt er sich auf eine andere Krankengeschichte und gibt an, beim Renovieren von der Leiter gefallen zu sein. Das brachte zwischen einem Tag und einer Woche wegen Verdacht auf Gehirnerschütterung. „Die haben die und die Untersuchung gemacht, Hauptsache …“ Marcus P. reibt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. „Hauptsache, das Geld stimmt.“ Marcus P. wirkt bedrückt, wenn er von der anderthalbjährigen Klinikodyssee spricht. „Man wird depressiv“, sagt er. „Keine Menschenseele kümmert sich um einen.“ Einmal, in einer anthroposophischen Klinik in Herdecke, sagt er, vertraut er sich einer Ärztin im Praktikum an. „Ich hatte gehofft, dass der Scheiß endlich aufhört.“ Sie versucht, ihm bei der Wohnungssuche zu helfen. Leider ohne Erfolg. Als er entlassen wird, bricht er den Kontakt ab. Und dann? „Ich weiß nicht mehr, wo ich dann hin bin. Das war doch immer das Gleiche. Es waren zu viele Krankenhäuser.“

Das Wort „obdachlos“ kommt Marcus P. nicht ein einziges Mal über die Lippen. Aber er spricht von Obdachlosigkeit, als er den Bruder seines Vaters erwähnt. „Der lebt in Düsseldorf auf der Straße.“ Marcus P. will nicht so enden wie sein Onkel.

Die Angst davor bringt ihn schließlich hinter Gitter. Die Nacht auf der Wache nach seiner Festnahme findet er „hart“. Kein Fernseher, kein Radio, Haftrichter, Fingerabdrücke, zählt er die Unannehmlichkeiten auf. Die nächsten Nächte verbringt er in einer Unterkunft für Wohnungslose der Diakonie in Witten. „Erst da habe ich erfahren, dass es so etwas gibt“, sagt Marcus P. und guckt dabei, als wisse er nicht, ob er sich für diese Wissenslücke schämen soll.

Seit Ende Juni hat er eine eigene Wohnung, etwas außerhalb vom Stadtzentrum. In einem dreistöckigen rosafarbenen Haus mit 84 Einzimmerwohnungen, die Appartements heißen und vom Sozialamt bezahlt werden. Er bewohnt Appartement Nummer siebzig. Die Wohnung im zweiten Stock geht zu einer stark befahrenen Straße raus. Mehr als die Autogeräusche stört Marcus P. das laute Klingeln von „Kartoffel Thomas“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Das geht mir auf den Sack“, sagt er. Das Wohnzimmer ist mit graubraunem Teppich ausgelegt. Die Einrichtung besteht aus einem Schrank, einem Sofa, einem kleinen Tisch, einem Radiowecker, einigen Fantasybüchern und einer Glühbirne an der Decke.

Dass hier wirklich jemand wohnt, ist nur daran zu erkennen, dass auf dem Tisch Stifte, zwei Würfel und mehrere Zettel liegen, auf denen Begriffe wie Zwerg, Amazone, Mut, Körperkraft, Jähzorn und Aberglaube stehen. „Das sind Rollenspiele, die ich mit einem Kollegen aus der Obdachloseneinrichtung mache“, erklärt Marcus P. Zwischen dem Wohnzimmer und einem kleinen, fensterlosen Bad, wo zwei Plastiktüten mit schmutziger Wäsche einen unangenehmen Geruch verbreiten, ist eine winzige Kochnische. Marcus P. hat sie noch nie benutzt.

Sein neues Zuhause nennt er „Schweinchenhaus“. Wegen der Farbe. Früher, erzählt er, hat es „Zur blutigen Nase“ geheißen. Wegen der Schlägereien, die es dort unter den Mietern gegeben haben soll. Jetzt wirkt das Gebäude mit seinen langen Fluren und der Stille eher steril. Es sind die ersten eigenen vier Wände in seinem Leben. Freut er sich? „Ja, schon. Aber es wäre schön, wenn mich meine Eltern besuchen würden“, sagt er. „Oder wenigstens telefonieren.“ Aber er glaubt nicht daran. „So wie ich den Dickkopf meiner Mutter kenne.“

Seit einigen Wochen lässt sich Marcus P. nicht mehr bei der Wohnungslosenberatungsstelle blicken. Vergeblich versuchten die Mitarbeiter, über das Sozialamt und den Hausmeister Kontakt zu ihm aufzunehmen. Sie sind jedoch froh, über drei Ecken erfahren zu haben, dass er sich in seiner Wohnung aufhalten soll. Auch die Polizei beklagt, dass Marcus P. seinen Meldeauflagen nicht so nachkommt, wie er das sollte. Selbst durch diese Netze kann ein Mensch fallen.

BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA, 38, ist Reporterin der taz