Buletten und Rotwein

In Wahlkampfzeiten mit Kultur einen Coup landen? In Paris kein Problem. In Berlin ausgeschlossen. Anmerkungen zum Verhältnis von Politikern und Intellektuellen diesseits und jenseits des Rheins

Der Künstler?Ist verschwunden. Niemandem istdas aufgefallen

von PASCALE HUGUES

„Die Deutschen sind viel vernünftiger als die Franzosen.“ In der stickigen „Ständigen Vertretung“ wandert die Postkarte unter den letzten Kämpfern für eine Kultur der Linken von einer feuchten Hand zur anderen. Man bewundert, lacht, ist geschmeichelt. Könnte man dieses Kompliment wirklich verdient haben? Es war ein Mitarbeiter des Büros von Jack Lang in Paris, der die aufmunternde Postkarten-Botschaft dem kleinen Häuflein schickte, das Klaus Staeck im Hauptquartier der exilierten Bonner am Ufer der Spree versammelt hat. Es gibt einen einfachen Grund, warum die Pariser Kaviar-Linke ein Loblied auf die Berliner Brioni-Linke anstimmt: Letzten Mai katapultierten die Franzosen Jean-Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen auf den zweiten Platz. Seither üben sich die französischen Intellektuellen in Bescheidenheit.

Die Mitstreiter von Klaus Staeck haben ihre ersten Kampferfahrungen durchwegs 1968 auf den Pariser Boulevards gemacht. Damals waren sie jung. Ihr Vorbild: der engagierte Intellektuelle. Das sagen sie auf Französisch, die Augen voller strahlender Ehrerbietung. Wenn André Glucksmann in Berlin spricht, ist der Saal voll. Bernard Henry-Lévys Reportagen werden binnen einer Woche nach ihrem Erscheinen in Le Monde nachgedruckt. Michel Houellebecq genießt Kultstatus, was er schreibt, ist angesagte Pflichtlektüre. Pierre Bourdieus Tod wurde in den deutschen Feuilletons wie ein nationaler Trauerfall behandelt.

Ja, die Franzosen, die haben es besser. Die Staatsmacht konsultiert die Intellektuellen. Ganz so, als ob sich jeder Unterstaatssekretär in der Rolle Ludwigs XIV. sähe, der mit Racine dialogisiert. Pompidou gab seinen Namen dem zeitgenössischsten Gebäude von Paris, er edierte eine Anthologie französischer Poesie. Giscard sorgte für den Bau des Orsay-Museums und schrieb einen Roman an den Wassern Roms. Chirac bespricht sich regelmäßig mit dem Konservator des Museums Guimet, er erbittet den Rat Alain Finkielkrauts, bevor er sich zu Fragen der Bioethik äußert. Und was die Diners von François Mitterrand angeht – die Gespräche des gebildeten Präsidenten mit Gabriel García Márquez unter der Täfelung des Élysée-Palasts –, sie gehören schon der Legende an.

Zugegeben, es ist schwierig, sich Edmund Stoiber vorzustellen, wie er den Wiederaufbau des Berliner Hohenzollern-Stadtschlosses annulliert, um an seiner Stelle eine futuristische Pyramide zu errichten. Oder Gerhard Schröder, wie er einen kleinen, virtuosen Essay über Marsilio Ficino schreibt. „Ein Staatsmann“, bekräftigte kürzlich Jack Lang, „muss denken, aber auch zu denken geben. Kultur ist eine Waffe. Sie ist nicht nur eine Bürde, nicht nur ein Budgetposten. Sie ist eine Hilfe fürs Glücklichsein.“ Ein sentimentaler Höhenflug, pompös und bestimmt auch etwas lächerlich, aber doch herzerwärmend, wenn man zwischen zwei konkurrierenden, trockenen Glaubensbekenntnissen zur Steuerreform und den Beschwernissen des Mittelstandes eingeklemmt ist. Welcher Politiker in Deutschland würde es zur Wahlzeit wagen, sich für die Kultur zu schlagen, um einen Coup zu landen?

Während des gesamten deutschen Wahlkampfs 2002 war die Kultur abwesend. Sicher, hunderte deutscher Intellektueller, Schauspieler, Regisseure sind ihrer Pflichtübung nachgekommen und haben ihre Unterschrift unter Appelle zur Unterstützung Schröders gesetzt. Aber man spürt keinerlei Enthusiasmus. Die Intellektuellen sind die großen Abwesenden dieser Wahlkampagne.

Staeck kann sich leicht über die „Kukident-Generation“ mokieren, mit der sich Edmund Stoiber im Kreis seines Kompetenzteams umgibt. Die um Staeck versammelten Intellektuellen haben das gelichtete Haar und das sanfte Bäuchlein der 50-Jährigen. Sie klagen über das mangelnde Engagement der jungen Intellektuellen, dieser „verspielten Kinder“, und blicken neidisch hinüber nach Fankreich. Dort erfreut sich Jack Lang einer hierzulande gänzlich unvorstellbaren Popularität. Mit 62 Jahren steht er im Zenit, angebetet von den jungen Leuten. Er besucht die Universitäten, die Wohnquartiere, um „die Hoffnungen, die Ängste, die Ideen der jungen Generationen einzusammeln“. Er war es, der die Techno-Parade, die französische Version der Love Parade, nach Paris importiert hat. Der den Rap verteidigt, das „Fest der Musik“ zur Welt brachte und die Globalisierungskritiker unterstützt.

Nach seinem Machtantritt vor vier Jahren hat Schröder den Posten eines „Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien“ kreiert – ein Titel, ungefähr so glamourös wie ein Formular der Sozialversicherung. Jetzt nimmt die Kultur den gleichen Rang ein wie die Minderheiten, die auf dem Weg zu vergessen politisch inkorrekt wäre. Die Kultur hat jetzt wie die Frauen, die Ausländer und die Ostdeutschen ihren „Beauftragten“. Sieh mal an, dachte ich damals, als ich bewundernd dem munteren Treiben des Professors Julian Nida-Rümelin zuschaute. Jetzt haben es die Deutschen doch noch geschafft, Jack Lang zu klonen. Die gleichen sehr kurz geschnittenen und auf gleiche Weise frisierten Haare wie das Pariser Original.

In Deutschland ist „Dschak“, das Original, allgegenwärtig. Bei der Love Parade, beim 10. Jahrestag der deutschen Einheit, als Unterschrift unter den Einladungen und Statements per Fax, mit denen die ausländischen Korrespondenten ohne Unterlass bombardiert werden. Jack Lang nimmt Stellung (zu allem oder wenigstens fast allem). Jack Lang ist in Bonn und hält – bitte sehr – auf Deutsch eine Rede zu Ehren von Mikis Theodorakis. Deutschland hat unserem Exminister zu einer zweiten Jugend verholfen.

Gerhard Schröder, der sich entschuldigt, dass ihm die Kultur nicht in die Wiege gelegt wurde, unternimmt große Anstrengungen, um „den Diskurs mit den intellektuellen Milieus wiederzubeleben“, wie aus dem sehr frankophilen und perfekt frankophonen Büro Nida-Rümelins verlautbart. Der Geist der 60er- und frühen 70er-Jahre soll wieder wehen, jene heroische Epoche, als alle großen Geister für Willy Brandt dachten. Gerhard Schröder kann Rilke auswendig. (Er zitiert immer das gleiche Gedicht.) Er gibt sich als Kenner der zeitgenössischen Malerei wie des Rotweins. Ein Bild von Baselitz ziert sein Büro im Kanzleramt – dort, wo Stoiber das Kruzifix aufhängen wird und ein Aquarell der bayrischen Alpen. „Besser als nichts“, urteilt man im kulturellen Milieu, wo alle voll des Lobs über die Bereitschaft des Kanzlers ist, zuzuhören.

Während einer dieser Sky-Lobby-Abende in den Schluchten des Kanzleramts beobachte ich diesen Kanzler der schönen Künste. Er hört zu, das stimmt. Heroisch, die Hände über die Knie gekreuzt, ohne zu gähnen, ohne zu zwinkern. Ein Künstler und der Direktor der Museen auf der Museumsinsel debattieren. 45 harte, eintönige Minuten. Kein Moment der Entspannung, kein befreiendes Lachen.

Anschließend lädt Schröder die Versammlung ein, die Gemälde zu bewundern, die die Wände seines Arbeitszimmers zieren. Dazu gibt es Kartoffelsalat und Buletten, begleitet von einem Rotwein, der beim Erwachen am nächsten Morgen nichts Gutes verheißt. Etwas verkrampfter Smalltalk rund um hochbeinige Tischchen. Plötzlich entspannt sich die Atmosphäre. Die Versammlung belebt sich. Der Kanzler und seine Geladenen greifen sich ein Bier und lassen sich ebenso entspannt wie erwartungsvoll vor einem der vier großen Fernsehbildschirme nieder. Ein Fußballspiel beginnt. Und der Künstler? Er ist verschwunden. Niemandem ist das aufgefallen.

Aus dem Französischen von Christian Semler