Der amerikanische Dissens

Jedediah Purdy kritisiert die ironische, unpolitisch-distanzierte Haltung der kommerzialisierten Popkultur in den USA. Seine Streitschrift ist furios, naiv – und voller interessanter Anregungen

von PAUL NOLTE

Vor drei Jahren sorgte in Amerika ein bis dahin unbekannter Student mit einer fulminanten Streitschrift für Furore: Jedediah Purdy, damals gerade 24 Jahre alt, war aus der tiefsten US-Provinz in West Virginia an die Harvard University gekommen und forderte nun ein neues Engagement seiner MitbürgerInnen „For Common Things“, so der Originaltitel des Buches, eine Abkehr von der verbreiteten Haltung des distanzierten Egoismus, eine Rückkehr des aktiven bürgerlichen Gemeinsinns. Jetzt liegt Purdys Buch in deutscher Übersetzung vor und ermöglicht nicht nur aufschlussreiche Einblicke in das amerikanische Selbstverständnis jenseits von Bush, Irak und 11. September; es trifft auch einen Nerv unserer eigenen Probleme: Über Bürgerengagement und zivilgesellschaftliche Werte wird auf beiden Seiten des Atlantiks diskutiert, und der Renaissance dieser Werte steht hier wie dort ein nachlassendes Interesse der Jüngeren an der etablierten Politik, vielleicht gar an Politik überhaupt, gegenüber. Die Shell-Jugendstudie 2002 hat das soeben noch einmal bestätigt.

Das Desinteresse an öffentlichen Dingen manifestiert sich für Purdy in einer weit verbreiteten Haltung der unverbindlichen Distanz, des „Nicht-so-ernst-Nehmens“ der Dinge. Er nennt das die Grundhaltung der „Ironie“ und sieht in ihr die Wurzel für unsere Unfähigkeit, uns noch unzweideutig für Ideen oder Projekte begeistern zu können, die aus moralischem Antrieb die Welt verbessern wollen. So erklärt sich der (auf den ersten Blick vielleicht etwas rätselhafte) deutsche Titel „Das Elend der Ironie“. Der Ironiker klagt über die Welt und findet sich doch mit ihr ab; er findet die Politiker verlogen, aber auch diejenigen naiv, die das kritisieren oder verändern möchten.

Purdy plädiert dafür, Vertrauen in die Welt zu entwickeln, an die Realität der Dinge zu glauben und das politische wie das gesellschaftliche Handeln aus einer gemeinschaftlichen Verantwortung zu begründen, die aus diesem Realitätsvertrauen folgt. Von hier aus erschließt sich ein weites Spektrum von Themen und Gedanken, das immer wieder auf die eigenen Erfahrungen des Autors zurückläuft. Diese Erfahrungen wurzeln im bergigen und armen West Virginia, wo seine Eltern eine kleine Farm fast abseits der Zivilisation betrieben, wo sie Jedediah zu Hause unterrichteten und die Welt durch Erfahrung begreifen lehrten statt ihn auf eine öffentliche Schule zu schicken. In West Virginia spielt auch jene exemplarische Story unverantwortlichen politischen Handelns, die Purdy ausführlich als Gegenbild zu seiner eigenen Politikvision beschreibt: die großflächige Zerstörung der Landschaft durch den Steinkohletagebau, der letztlich planierte Mondlandschaften zurücklässt. Wo Purdy so schreibt, klingt sein Buch für europäische Ohren wie das Manifest einer neuen ökologischen Bewegung, doch geht es im Kern nicht um Naturschutz, sondern um Individuum und Gesellschaft und insofern um eine „moralische und soziale Ökologie“.

In mehrfacher Hinsicht ist dies zunächst ein Buch aus und über Amerika. Purdy stellt sich, teils auch explizit, in die gesellschaftskritischen Traditionen seines eigenen Landes; er knüpft an Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, die romantischen Individualisten des 19. Jahrhunderts, an und klingt manchmal wie ein Urenkel John Deweys, des großen Philosophen der amerikanischen Demokratie im 20. Jahrhundert. Das Amerika, das er kritisiert, ist das Amerika der 90er-Jahre, der Zeit der Clinton-Administration, deren „therapeutischen“ Politikstil Purdy verabscheut. Freilich: Er repräsentiert den amerikanischen Dissens, nicht den „mainstream“, der seine Thesen oft heftig zurückgewiesen hat, weil sie angeblich auf eine Stärkung der Staates und der Regierungskompetenzen hinauslaufen, also auf das, was in den Vereinigten Staaten mit „liberal“ noch höchst freundlich verabscheut wird. „I’m sick of Socialist slime like Purdy“, so klingt das in einem Internet-Leserurteil. Davon kann aus europäischer Perspektive überhaupt keine Rede sein: Purdy zielt gerade nicht auf den Staat, sondern auf die Zivilgesellschaft, und nicht zufällig spielen die Transformationsdemokratien Osteuropas in seinem Buch eine wichtige, positive Rolle.

Trotzdem wirkt der übersprudelnde Enthusiasmus des Autors hin und wieder naiv, und seine Position bleibt in vielen zentralen Fragen diffus. Ein nostalgischer Wind weht gelegentlich durch das Buch; Romantik und Technikkritik sind dann nicht weit. Mal gibt es plakative Vorbehalte gegenüber dem Marktkapitalismus, dann wieder nicht. Purdy schreibt, als ob die ganze Welt West Virginia wäre, wo alles reell, nichts ironisch ist. Und welche Ironie ist es, die Purdy kritisiert? Es ist vor allem die ironische, unpolitisch-distanzierte Haltung, die in der kommerzialisierten Popkultur vorgeführt wird, in Sitcoms wie „Seinfeld“ – ein Gestus, der in Deutschland vielleicht in Florian Illies’ „Generation Golf“ seine Entsprechung hat. Schön und gut, aber der Ironie als geistigem und politischem Prinzip wird damit Unrecht getan. Man muss dazu nur an Purdys Landsmann Richard Rorty denken, dessen Entwurf der „liberalen Ironikerin“ keineswegs im Gegensatz zu ernsthafter Überzeugung und politischem Engagement steht. Die ironische Haltung in der Politik ist schließlich ein wichtiges Korrektiv gegen alle Formen von Fundamentalismus und falscher Verbohrtheit, nicht zuletzt aus der europäischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts heraus. Sieht man auf das Amerika Bushs statt auf dasjenige Clintons, mag man sich insofern gerade einen Schuss Ironie wünschen.

Aber das ändert nichts daran, dass hier ein wichtiges und schwungvoll geschriebenes politisches Manifest eines Autors vorliegt, der nicht nur in Amerika etwas zu sagen hat. Mit den Prinzipien von Verzicht, Nachhaltigkeit und Verantwortung skizziert Purdy ein Programm, „konservativ“ und „radikal“ zugleich, auch für die deutsche Gesellschaftskrise, die nach dem 22. September – so oder so – auf ihre Lösung wartet.

Jedediah Purdy: „Das Elend der Ironie“, übersetzt von Holger Fliessbach, 213 Seiten, EVA, Hamburg 2002, 19,90 €