Ein schmieriger Fall

Projekte, Projekte, Projekte: Der Großgewerbekünstler, Aktivist und Popmusiker Peter Gabriel hat ein bedeutungsschwangeres Album voller Gemeinplätze und esoterischer Abstraktionen herausgebracht

Überdies scheint der inzwischen 52-Jährige kein textliches Thema mehr zu finden

von ANDREAS MERKEL

Gewaltig geht es los. Man hat den Lautstärkeregler extra aufgedreht, um den verträumt vor sich hin plätschernden Synthesizer überhaupt hören zu können, da dröhnen auf einmal infernalische Godzilla-Fanfaren aus den Boxen – um bald darauf wieder in eine gespenstisch ruhige Tiefe abzutauchen: „I’m scared of swimming in the sea / dark shapes moving under me …“, singt Peter Gabriel, und man glaubt es ihm gerne.

So beginnt „Up“, Peter Gabriels zwölftes reguläres Studioalbum, und es scheint nahtlos anzuknüpfen an die Zeit von Gabriels größten Erfolgen. 1986 war es, als der Song „Red Rain“ ähnlich furios ein neues Album eröffnete, auf dem ein leise klimpernder Regen sich zu grandios herabstürzenden Soundkaskaden auswuchs. „So“, eingespielt unter anderem mit dem kongenialen Police-Drummer Stewart Copeland, war damals Peter Gabriels endgültiger Durchbruch. Der einstige Frontmann der einstigen Art-Rocker (und heutigen VW-Rocker) Genesis beschwor darauf ein Pathos aus omnipotenten Karriere-Fantasien, privater Psychokacke und archaischen Zurück-zur-Natur-Sehnsüchten, in dem eine ganze Dekade verloren zu gehen drohte. – Whatever happened to the Eighties.

Was mit Peter Gabriel passierte, ist dagegen hinlänglich bekannt. Man nahm es eher nebenher und aus den Augenwinkeln wahr. Ein Großgewerbekünstler, der in den Weiten der multimedialen Welt expandierte und diversifizierte. Glaubwürdiges Engagement für die Menschenrechte (auf der weltweiten amnesty-international-Tour sang er gemeinsam mit Sting und Bruce Springsteen seinen Antiapartheid-Song „Biko“, und kurze Zeit später brach das südafrikanische Regime auch aufgrund des massiven öffentlichen Drucks zusammen) und Aktivismus für Musiker aus aller Welt auf der einen Seite.

Auf der anderen Seite Projekte, Projekte, Projekte: multimediale Gesamtkunst, technologische Heldentaten wie die Weiterentwicklung von CD-ROMs und DVDs auf dem eigenen Label Real World, sowie hier mal eine Soundtrack-Komposition und da mal eine Show-Konzeption für den Londoner Millennium-Dome. „In den letzten sieben Jahren hat Peter Gabriel an über 130 verschiedenen Ideen gearbeitet“, heißt es eifrig im Pressetext. Und danke der Nachfrage.

Als reiner Popmusiker indessen trat Peter Gabriel in all den Jahren seit „So“ nur einmal mit dem uninspirierten „Us“ in Erscheinung, auf dem 1992 im Wesentlichen zu nüchternem Mineralwasser-Pop die eigene Scheidung verarbeitet wurde. Nachhaltiger im Gehör blieben da leider sämtliche Klatschgeschichten über wechselnde Affären, unter anderem mit Sinead O’Connor.

Ganz generell jedenfalls wollte man sich mit Peter Gabriel lieber nicht mehr beschäftigen, denn hinter all dem – man ahnt es – lauerte nichts als die Vorhölle: So viel Zeit und Geld zu haben, um sich für etwa „130 Ideen“ gleichzeitig zu interessieren, oder sich auf Mallorca in jemanden wie Claudia Schiffer zu verlieben. Und dann plötzlich alles auf Neu?! Das große Comeback, nach dem alle Drehbücher noch einmal umgeschrieben werden müssen!?

Ganz so schön kommt es dann doch nicht. Immerhin zu drei gelungenen Songs hat es aber gereicht: Der bereits angesprochene Opener „Darkness“ nimmt sich sieben Minuten Zeit, eine kleine Gothic-Horror-Show auszubreiten, die vom Schwimmen ebenso handelt wie von der Angst, Frauen zu lieben oder gar auf Männer zu stehen.

Die groovigen Tracks „Growing Up“ sowie „The Barry Williams Show“ – Letzteres die erste Single-Auskopplung, zu der Sean Penn gerade ein skandalträchtiges Video gedreht hat, das in England nicht vor 21 Uhr im Fernsehen gezeigt werden darf – finden zumindest musikalisch den Anschluss an die hypnotische Rhythmik von Gabriels besten Songs wie „Shock the Monkey“, „Intruder“, und „I Don’t Remember“. Und auch auf einigen anderen Stücken zeigt sich, dass Gabriel immer noch für einen eingängigen Refrain oder ausgefallenen musikalischen Ansatz gut ist, wie zum Beispiel das jazzige Bassthema am Beginn von „No Way Out“ beweist.

Aber dann verliert sich doch vieles zu schnell in bedeutungsschwangerer Betulichkeit, in globalisierten One-World-Beats und wabernden New-Age-Harmonien. Irgendwie muss darüber hinaus jeder Song sieben Minuten (zu) lang dauern, und auf dieser Distanz offenbaren sich dann auch die Grenzen, die Gabriel stimmlich gesetzt sind. Sein prägnanter, immer etwas heiserer Kehlkopfgesang wird zum Klischee und bloßen Markenzeichen-Pop: Peter Gabriel singt mit seiner Peter-Gabriel-Stimme seine Peter-Gabriel-Songs.

Nachhaltiger im Gehör blieben da leider sämtliche Klatschgeschichten

Überdies scheint der inzwischen 52-Jährige kein Thema mehr zu finden, das ihn textlich inspirieren würde. Auf „Up“ dominieren die platten Allgemeinplätze und Küchenpsychologismen: „I have my fears / but they don’t have me“. Alles wird über einen Kamm esoterischer Abstraktion gebrochen, alles wird gut, irgendwie, denn „there is something else there / when all that you had has all gone“.

Und wenn es fernab dieses Therapie-Positivismus dann doch mal kritisch und konkret wird, dann nur auf den ausgetretenen Pfaden der Political Correctness. Die Single „The Barry Williams Show“ prangert die abartigen Themen der nachmittäglichen Schmuddel-Shows und Reality-TV-Sendungen an. „ My girl became a man / I love my daughter’s rapist …“ – Sorry, aber eine derart gewagte Kritik hätte auch von Phil Collins kommen können, dem einstigen Kollegen und lange verhassten Band-Antagonisten bei Genesis. Und über das imageträchtige Radioverbot hätte der sich bestimmt genauso gefreut.

Doch auch wenn Peter Gabriels stellenweise arg eintönige Klangtapete nicht gerade dazu motiviert, ihn noch differenziert zu kritisieren, bleibt er ein schwieriger Fall. Das neue Album nach dessen furiosem Auftakt gänzlich dem Vergessen zu überantworten, wäre sicherlich falsch: Die Fans werden ihre Freude daran haben, ein paar werden ihn wiederentdecken, und hier und da blitzt sogar kurz die alte Klasse auf.

Man muss am Ende jedoch einsehen, dass es andere Zeiten waren, als dem Meister noch ein paar fantasievolle Strophen reichten, um eine ganze Zivilisation poetisch im Regen stehen zu lassen. „All of the buildings, all of the cars“, sang Gabriel 1986 in dem apokalyptischen „Mercy Street“, „were once just a dream in somebody’s head“. Die Welt könnte sich bis heute nicht davon erholt haben.

Peter Gabriel: Up (Virgin/EMI)