Proben nach Schulschluss

Hier kommt die Gegenwart: Peter Sellars hat für die Ruhrtriennale „Die Kinder des Herakles“ von Euripides in einer Berufsschule inszeniert. Den Haag, HipHop und die Asyldebatte sind auch dabei

von MORTEN KANSTEINER

Die Heimat der Ruhrtriennale sind nicht etwa die üblichen Rückzugsgebiete der Kunst, die Theater und Opernhäuser. Nein, das Festival ist zumeist an ehemaligen Orten der Arbeit anzutreffen, in verlassenen Stahlwerken, Zechen, Kokereien. Und die jüngste Produktion der Triennale nähert sich dem wahren Leben sogar noch ein bisschen mehr: Peter Sellars hat „Die Kinder des Herakles“ von Euripides im Lichthof einer Berufsschule in Bottrop inszeniert. Proben immer nachmittags nach Schulschluss.

Schon der Ort lässt vermuten: Hier geht es um Gegenwart. Der Verdacht erhärtet sich, wenn der Abend nicht etwa mit der ersten Szene, sondern mit zwei kurzen Vorträgen beginnt. Vor jeder Vorstellung der „Kinder des Herakles“ sprechen zwei Redner über Flucht und Exil, einer aus der analytischen Perspektive und einer aus Erfahrung.

Bei der Premiere am Donnerstag machte der Triennale-Intendant den Anfang. Gerard Mortier zitierte einige Thesen aus einem Aufsatz Edward Saids, den er und Sellars gern als Auftaktredner angeheuert hätten. Exil sei eine schmerzhafte Angelegenheit, erklärte Mortier etwa, und die Ästhetisierung der Exilerfahrung in der Literatur durchaus problematisch. Anschließend durfte Ali Gafar, ein kurdischer Schriftsteller, ein paar Minuten über die Unterdrückung seiner Sprache in Syrien berichten. Damit war, schon bevor ein Vers aus den „Kindern des Herakles“ gesprochen wurde, eine klare Leseanweisung gegeben: Euripides’ Drama, in dem die Nachkommen des Herakles in Athen Schutz vor ihren Verfolgern finden, ist mit aktuellen Vertreibungen, Flüchtlingsströmen und Asyldebatten in Verbindung zu setzen. Genau das – und nicht viel mehr – verkündete dann auch Sellars’ Inszenierung.

Bei Euripides wird über das Schicksal der Flüchtlinge im Zeusheiligtum von Marathon verhandelt. Bei Sellars ist die Situation irgendwo zwischen Gipfeltreffen und Internationalem Gerichtshof angesiedelt. Den Kopreus, der die Kinder des Herakles zurück nach Argos in den Tod führen soll, spielt Elaine Tse als eine smarte Anklägerin im braunen Kostüm. Ihr steht Jolaus gegenüber, der Beschützer der Kinder. Uliks Fehmiu stattet ihn mit dem ganzen Repertoire medienerprobter Mitleidsgesten aus – locker schwingt die Unterlippe, voller Unschuld steigen die Augenbrauen. Zwischen den beiden richtet ein Inbild der Aufrichtigkeit: Brenda Wehle trägt als Athenerkönig Demophon britische Miene zur konservativen Frisur.

Gewiss: Es ist verblüffend, wie nahtlos sich der Text zumindest in den ersten Szenen in die neue Situation einpasst. Doch dieser Reiz erschöpft sich. Und dann tritt umso unangenehmer die unbekümmerte Direktheit des Abends in den Vordergrund: das Pathos jenes Rituals etwa, mit dem die Herakles-Tochter Makaria einer Göttin geopfert wird; die onkelige HipHop-Attitüde, mit der der Comedian Albert S. einen Soldaten spielt; die total authentische Unprofessionalität, mit der zwei dazu abgestellte Laien die Interventionen des Chores sprechen.

Überdies ist allein mit der einen Feststellung – dass es Korrespondenzen gibt zwischen Den Haag und antikem Drama – noch keine große Einsicht gewonnen. Es sei denn natürlich, die Übereinstimmung erstreckt sich auch auf Details. In dem Fall ließe sich auf eine schnelle Lösung aktueller Flüchtlingsprobleme hoffen: Ein Wunder wird’s schon richten. Denn in der Geschichte, wie Euripides sie erzählt, fahren zwei Götter hernieder und verleihen den Guten den Sieg zuletzt doch noch in der entscheidenden Schlacht.

Während der Bote von dem Triumph berichtet, lässt Sellars eine Barriere hochfahren, die bislang eine Art Lager für die Flüchtlinge markiert hat. Hell leuchtend steigt sie empor – die Transzendenz lässt grüßen –, und die Kinder des Herakles sind frei. So einfach ist das.