Aufstand des Sekundären

„Von Natur aus künstlich“: Helmuth Plessners Plädoyer „Grenzen der Gemeinschaft“ wird neu aufgelegt. Die Studie hat von ihrer polemischen Kraft nichts eingebüßt

Lange war Helmuth Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ ein Geheimtipp. Als die kleine Schrift 1924 in zivilisationsmüder Zeit zuerst erschien, stand sie quer in der intellektuellen Landschaft. Unter all den weltanschaulichen Bekennerschreiben und kulturkritischen Konsenspapieren der Zwischenkriegszeit war sie ein singuläres Dokument, ein raffiniertes Plädoyer für ein westliches „Gesellschaftsethos“. Nun liegt Plessners „Grenzschrift“ endlich in einer Neuausgabe wieder vor.

Die titelgebenden Grenzen der Gemeinschaft liegen für den Soziologen in der Natur des Menschen. „Der Mensch ist von Natur aus künstlich“, so Plessners anthropologische Prämisse; ein zartes Wesen, das sozialer Spielregeln bedarf, um „unangreifbar“ zu werden. Zum Zusammenleben reicht der authentische Gemeinschaftswille allein nicht aus. „Aufrichtigkeit ist keine Richtschnur einander fremder Personen. Nach kurzem Zusammenprall müßte sich Weltraumkälte zwischen sie legen.“ Distanztechniken helfen, sich nahe zu kommen. Von den Bürden der Intimität entlasten Verhaltensregeln – Zeremoniell, Prestige, Takt und Diplomatie.

Wer als Emanzipationsfreund auf ein Formenkleid meint verzichten zu können, macht sich in Plessners sozialen Welt peinlich. „Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, trägt das Risiko der Lächerlichkeit.“ In einem Nachruf auf Adorno, der mit anderen nicht oder entlegen publizierten Aufsätzen in einem anderen Band erschien, notiert Plessner über unzüchtige Kommilitoninnen, die mit der Befreiung nicht auf das Seminarende warten wollen: „Mädchen mit oben nicht ganz ohne sind selbst im ganz entkleideten Zustand kein Argument.“ Plessners Welt ist eine Freud-lose Welt, in der es darauf ankommt, die Form zu wahren. Aber sie ist nicht ohne eigenen Reiz – Lust am Maskenspiel vorausgesetzt: Keiner zittert hier vor Kühnheit, jeder kann auch anders, Entfremdung ist kein Dauerschmerz, sondern Lebenselixier.

Helmut Lethen hat in einer originellen Lektüre (in „Verhaltenslehren der Kälte“) die Nähe der „Grenzschrift“ zu linken wie rechten Avantgardekonzepten der Zwanzigerjahre aufgezeigt. Zusammen mit der „Grenzschrift“ erscheint nun ein materialreicher Band, der Lethens einflussreiche These diskutiert, frühe Rezensionen abdruckt (Tönnies, Kracauer) und die Schrift in neuere Theoriezusammenhänge einordnet. Richard Sennet etwa teilt zwar Plessners Affekt gegen den Intimterror, traut den künstlichen Formen moderner Gesellschaften aber nicht über den Weg.

Ursprünglich vor allem gegen die sozialradikale bündische Jugendbewegung gerichtet, hat die „Grenzschrift“ von ihrer polemischen Kraft nichts eingebüßt. Wird nicht gerade wieder das heilige Kalb der Authentizität in die Arena geführt, Ernst und Glaubwürdigkeit als politische Kerntugenden beschworen („Politik braucht Prinzipien“)? Glaubt man manchen Kommentatoren, wird am Sonntag bei der Bundestagswahl zwischen einem gesinnungslosen Spieler und einem echten deutschen Überzeugungstäter die Entscheidung fallen. Scheinbar kehren mit den Vokabeln die Aufrichtigkeitsfiguren der alten Bonner Zeit zurück. Man wird wieder Plessner lesen müssen. Mit so eleganter Grazie wurde selten der Aufstand des Sekundären geprobt.

STEPHAN SCHLAK

Helmuth Plessner: „Grenzen der Gemeinschaft“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 145 Seiten, 8,50 €ĽHelmuth Plessner: „Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge“. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, 356 Seiten, 35,80 €