Was vom Wählen übrig bleibt
Gefühle zeigen

Über Gefühlspolitik, Parteienpartys, vermeintliche Blue-Screen-Bilder, Nieselregen und Rollenschemata: Der Wahlabend. Eine Sammelrezension

Studien über Gefühlspolitik. In dieser Hinsicht war der Wahlabend wieder das ganz große Fest. Seltsam diesmal allerdings die Koalitionen. FDP (den ganzen Abend) und SPD (Schröder, solange die ARD ihn hinten sah) umwehte düstere Größe, Shakespeare’sches waberte im emotionalen Haushalt. Bei der CDU/CSU und den Grünen dagegen alles wie mit Fanfaren unterlegt. Und das lag nicht allein an ihren Gewinnen.

Wie freudig Stoiber sich zum Sieger ausrief – gelöster kann der gar nicht. Gefühle zeigen! Am Wahlabend gab’s bei ihm deutliche Fortschritte in diese Richtung zu registrieren. Zwar kein Aufbrechen des Kompetenzpanzers, aber Hinweise auf psychische Befreiung. Er, nicht Strauß, hat die CDU/CSU geeint! Da trat jemand aus einem Schatten – wie auch die ganze CDU aus einem Schatten trat: Dass gestern niemand an Helmut Kohl auch nur zu denken brauchte, muss wie ein Push gewirkt haben. Auch wenn’s zum Regieren nicht reichte, nun ist es nicht mehr SEine Partei.

Bei den Grünen nahm diese gefühlsanschiebende Rolle deutlich die Häme ein. Besser als die FDP! Während bei CDU/CSU und SPD sich die Lager tendenziell angleichen, scheint zwischen Grünen und FDP ein Graben zu entstehen mit allen notwendigen Begleiterscheinungen im Gefühlshaushalt, als da wären: Missgunst, Verachtung, Schadenfreude. Hier haben sich Feinde fürs politische Leben gefunden.

Dabei hatte die FDP doch am Wahlabend einen Moment von geradezu archaischer Bildkraft. Wie eine Bruderhorde (inklusive zweier Schwestern) stand die Parteiführung nach dem Brudermord an Möllemann eng beieinander. Wir alle haben den Dolch geführt! So etwas schweißt auch in der Niederlage zusammen. Gerhard Schröder wirkte dagegen isoliert. Gemeißeltes Gesicht: ein Mann, der nach allerlei Träumereien wieder in der Wirklichkeit angekommen war. – Nur die PDS wirkte irgendwie emotionslos.     DIRK KNIPPHALS

Schlurfige Achtziger

Eines muss man der PDS lassen: Mit der Arena in Treptow, einem ehemaligen BVG-Busdepot, hat sie sich einen smarten Wahlparty-Venue gewählt. Allerdings ohne zu bedenken, dass gerade die Arena auch einer der allertraurigsten Orte sein kann. Wenn die Halle kaum zur Hälfte gefüllt ist oder eben eine Wahl in die Hose geht, dann ist es hier trist und zugig. So sieht man auch nur vereinzelte Gestalten vorbeischlurfen oder auf dem Boden kauern und Joints rauchen. Schlechter Rock, White Trash.

Das neue Tempodrom wiederum passt bestens zu den Grünen. Früher ein Zirkuszelt, jetzt ein überaus zweckmäßiger Veranstaltungsort, symbolisiert es den Aufbruch alternativer Kultur ins neue Jahrtausend. Trotzdem weht hier noch immer der Geist der Achtziger mit Kleinkunstfestivals, Heimatklängen und Simple-Minds-Konzerten, und die Grünen lassen sich nicht lumpen: Claudia Roth in ihrem hellgrünen Anzug sieht gewollt schick aus, aber nicht gekonnt. Sie spricht von einem „fantasievollen“ Wahlkampf, und man denkt an Feuerschlucker und Schrottkünstler. Auch Joschka Fischer will nicht aus dem Rahmen fallen: Der Anzug zwar ein hipper Nadelstreifen, aber unter dem offenen hellblauen Hemd ein weißes T-Shirt. Oha! Von wegen Zukunft, die schlurfigen Achtziger sind das, zudem noch moderiert von Peter Illmann.

Die Neunziger bleiben außen vor: Ernsthaftigkeit regiert, angesichts des ungewissen Ausgangs kein Wunder. Der Spaß vergeht der FDP schon mit der ersten Prognose, und auch Edmund Stoiber dürfte der Champagner später übel aufgestoßen sein. Die Spaßgesellschaft gibt’s nur noch beim Fußball, auf Sat-1: „Hier gelten die Regeln der Spaßkultur, 60.000 wollen sich total amüsieren“, berichtet der unverbesserliche Werner Hansch von der Partie Schalke gegen Mönchengladbach. Dass aber die SPD-Spitze im Willy-Brandt-Haus ausgerechnet mit Karl Dall feiert, gibt dann doch wieder zu denken. GERRIT BARTELS

Fernsehhexerei

19.55 Uhr. Auf ARD ist alles verloren. Deswegen zappe ich und bleibe bei CNN hängen. Split Screen: im linken Quadrat die Moderatorin, im rechten der Korrespondent Chris Burns, live aus den „Schroeder headquarters“. Im nächsten Augenblick schon nimmt Burns’ Ausschnitt den ganzen Bildschirm ein, im Hintergrund sieht man eine Menschenmenge in Bewegung. Erstaunlich ist, dass sich niemand nach dem Korrespondeten oder der Kamera umdreht.

Ein paar Minuten zuvor, bei den ARD-Aufnahmen aus der CDU-Zentrale, war das ganz anders. Ein älterer Herr mit trunkenem Grinsen näherte sich der Szene: Schaut alle her, ich bin im Fernsehen! Stunden später tut er es wieder, mit demselben Grinsen. Weil sich Burns’ Konturen außergewöhnlich scharf vor dem Hintergrund abzeichnen, vermute ich, dass es sich um Blue-Screen-Aufnahmen handelt, dass sich der Korrespondent gar nicht im Willy-Brandt-Haus, sondern im CNN-Hauptstadtstudio befindet und dass sein Bild auf den bewegten Hintergrund gelegt wird.

Das stört deswegen wenig, weil CNN die sympathischere Hochrechnung hat: 38,4 Prozent für die CDU/CSU, 38,2 für die SPD, 8,8 für die Grünen und 7,2 für die FDP. Eine veraltete Hochrechnung? So zeitverzögert wie Bild und Tonspur bei Robin Oakley, dem zweiten CNN-Korrespondenten? Um 20.09 Uhr lese ich auf der Banderole: „German projections indicate 10-seat majority for SPD-Greens.“ Zwei Minuten später läuft Peter Struck durch den Bildhintergrund, Burns dreht sich nach ihm um, um ihn zu interviewen, also ist’s doch kein Blue Screen oder aber eine lustige Hexerei.

Strucks Englisch ist „not so good“. Auf Kabel 1 beginnt derweil ein Spielfilm. Hubschrauber schweben als schwarze Schattenrisse vor einem roten Himmel und einem gelben Sonnenuntergang, aus der Ferne grüßen die Farben der deutschen Fahne und „Apocalypse Now“. Aber dann ist’s doch nur „Airborne – Flügel aus Stahl“. CRISTINA NORD

Wählen mit Publikum

Je näher die Wahlen rückten, desto theatralischer wirkte der Stadtraum. Auf dem Weg zur Wahlparty im Kreuzberger „Club 39“ hatte Schröder des Öfteren eine rote Nase, Stoiber das übliche Bärtchen. Neben dem CDU-Spruch „Wenn mein Freund so viele Versprechen gebrochen hätte wie der Kanzler, würde ich ihn rausschmeißen“ stand: „Wenn mein Freund mich Muschi nennen würde, würde ich ihn auch rausschmeißen.“ Christian Ströbele hatte jemand eine Brille gemalt und den Ehrentitel „Dalai Lama“ gegeben.

Um fünf vor sechs mit Nieselregen war man ein bisschen aufgeregt und dachte an die großen Slogans vergangener Wahlkämpfe. Zum Beispiel an „Kutte weiß Bescheid“. Damit hatte Kurt Neumann von der SPD vor acht, vielleicht auch zwölf Jahren in Kreuzberg gepunktet und musste kurz darauf seine politische Karriere beenden.

Wenn Wahlen ein Event sind, wo liegt das Zentrum? Der Wahlvorgang natürlich, eigentlich. Aber im Grunde genommen ist das Wählen zu individualisiert und geht zu schnell, um als Event zu taugen. Jedes Mal will man sich bei der Stimmabgabe fotografieren lassen, wie man das Wahlbriefchen mit spitzen Fingern in den Urnenschlitz fallen lässt, jedes Jahr vergisst man das wieder.

Der Höhepunkt der Wahlen ist sechs Uhr abends, wenn alles getan ist. Der Rest eher locker: heiße Würstchen mit Kartoffelsalat und Bier, jemand hat ein „Socialist“-T-Shirt an, jemand sagt, der SPD-Kandidat sei doch „so ein alter Kiffer vom O-Platz“, der immer in der Ex-Punker-Kneipe „Intertank“ herumhängen und außerdem Mittelstürmer spielen würde. Jemand bemerkt: „Ist der widerlich“, als Laurenz Meyer im Fernsehen was sagt.

Nach drei Stunden ist einem langweilig, man stößt auf Ströbele an mit Angucken und geht dann wieder an zwei Notarztwagen vorbei, weil die Fruchtblase platzte und das Baby schneller kommt als geplant.       DETLEF KUHLBRODT

Enges Rollenschema

Wie fühlt man einem Volk den Puls? „Ist das nicht aufregender als ein Fußballspiel“, fragen die zu den Wahlpartys ausgesandten Reporter Jugendliche und die nicken brav. „Wie ist die Stimmung?“, wollen die Reporter noch wissen, aber da ist schon klar, dass Wahlpartys in dieser Nacht nicht viel hergeben. Einmal hebt einer, der unter dem Regenschirm vor dem SPD-Haus in Berlin ausgeharrt hat, an und will tatsächlich analysieren, was die Pattsituation über die Gesellschaft aussagt, aber da hat er wohl seine Rolle als Statist missverstanden. „Tief gehende Fragen wollen wir hier nicht diskutieren“, bremst ihn der Journalist, dafür hat man ja die Experten im Studio.

An Wahlabenden sucht das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich selbst als Bühne der Politik zu bestätigen. Die Bilder sind symmetrisch und zähflüssig – ein Spiegel der Lähmung. In der Mitte das Mikro, rechts und links zwei Köpfe; in der Mitte der Moderator, rechts und links Regierung und Opposition – das scheint sicher, selbst wenn noch nicht raus ist, welche Seite die Regierung und welche die Opposition darstellt. So lange sind die Moderatoren in der Mitte die Chefs, über sie laufen die Fäden im Frage-und-Antwort-Spiel, sie bestimmen die Felder der Kontroverse. Obwohl die Unsicherheit Platz fürs Ungewöhnliche geschaffen hätte, bleibt das Rollenschema eng: Gewinner, Verlierer, Moderatoren und Statisten. KATRIN BETTINA MÜLLER